Die Pest (German Edition)
normales Garnisonleben wieder auf. Diese kleinen Ereignisse waren wichtige Zeichen.
In dieser geheimen Erregung lebte die Bevölkerung bis zum 25. Januar. In jener Woche fiel die Statistik auf einen so niedrigen Stand, dass die Präfektur nach einer Befragung der Ärztekommission verkündete, die Epidemie könne als eingedämmt betrachtet werden. Die amtliche Mitteilung fügte allerdings hinzu, dass aus einer Vorsicht heraus, die die Bevölkerung mit Sicherheit gutheißen werde, die Tore der Stadt noch zwei Wochen lang geschlossen blieben und die Vorsorgemaßnahmen noch einen Monat beibehalten würden. Während dieser Zeit müssten beim geringsten Anzeichen für ein Wiederaufkommen der Gefahr «der Status quo aufrechterhalten und die Maßnahmen verlängert werden». Alle waren sich jedoch darin einig, diese Zusätze als Formsache zu betrachten, und am Abend des 25. Januar herrschte fröhliches Treiben in der Stadt. Um sich der allgemeinen Freude anzuschließen, ordnete der Präfekt an, die Beleuchtung wie in der Zeit der Gesundheit wieder einzuschalten. Unter einem klaren und kalten Himmel strömten unsere Mitbürger in lauten, lachenden Gruppen durch die erleuchteten Straßen.
In vielen Häusern allerdings blieben die Fensterläden geschlossen, und Familien verbrachten diese Nacht, die andere mit Geschrei erfüllten, in der Stille. Jedoch auch für viele dieser Trauernden war die Erleichterung groß, sei es, weil die Angst, weitere Verwandte hinweggerafft zu sehen, endlich beschwichtigt war, sei es, dass die Sorge, ob sie selbst überleben, beendet war. Am wenigsten aber teilten unbestritten jene Familien die allgemeine Freude, die gerade zu diesem Zeitpunkt einen mit der Pest ringenden Kranken in einem Krankenhaus hatten und die in den Quarantänestationen oder zu Hause darauf warteten, dass die Seuche, wie mit den anderen, auch mit ihnen wirklich zu einem Ende komme. Sie empfanden zwar Hoffnung, aber auf Vorrat, den sie zurückbehielten und aus dem zu schöpfen sie sich verboten, ehe sie nicht wirklich dazu berechtigt waren. Und dieses Warten, dieses schweigende Wachen zwischen Agonie und Freude erschien ihnen inmitten des allgemeinen Jubels noch grausamer.
Doch diese Ausnahmen taten der Zufriedenheit der anderen keinen Abbruch. Zweifellos war die Pest noch nicht zu Ende, und sie sollte es beweisen. Dennoch fuhren im Geiste aller schon Wochen im Voraus pfeifende Züge los über Gleise ohne Ende, und Schiffe kreuzten durch leuchtende Meere. Am nächsten Tag würden die Gemüter ruhiger sein und die Zweifel wieder aufkommen. Aber vorläufig kam die ganze Stadt in Gang, verließ jene abgeschlossenen, dunklen, unbewegten Orte, in die sie ihre Steinwurzeln geschlagen hatte, und setzte sich mit ihrer Fracht Überlebender endlich in Bewegung. An jenem Abend liefen Tarrou, Rieux und die anderen inmitten der Menge umher, und auch sie fühlten den Erdboden unter ihren Füßen wanken. Lange nachdem Tarrou und Rieux die Boulevards verlassen hatten, hörten sie noch diese Freude sie verfolgen, selbst noch als sie in menschenleeren Gassen an Fenstern mit geschlossenen Läden entlanggingen. Und gerade wegen ihrer Müdigkeit konnten sie dieses Leid, das sich hinter den Fensterläden fortsetzte, nicht von der Freude trennen, die etwas weiter weg die Straßen erfüllte. Die nahende Befreiung hatte ein lachendes und ein weinendes Gesicht.
Irgendwann, als der Lärm lauter und fröhlicher wurde, blieb Tarrou stehen. Über das dunkle Pflaster lief etwas Flinkes. Es war eine Katze, die erste, die seit dem Frühjahr wieder gesehen wurde. Sie blieb einen Moment mitten auf der Fahrbahn stehen, leckte ihre Pfote, fuhr schnell damit über ihr rechtes Ohr, lief lautlos weiter und verschwand in der Nacht. Tarrou lächelte. Der kleine Alte würde sich freuen.
Doch in dem Augenblick, als die Pest sich zu entfernen schien, um in die unbekannte Höhle zurückzukehren, aus der sie lautlos gekommen war, gab es wenigstens einen in der Stadt, den dieser Weggang in Bestürzung versetzte, und das war Cottard, wenn man Tarrous Aufzeichnungen glauben darf.
Ehrlich gesagt werden diese Aufzeichnungen von dem Moment an, da die statistischen Zahlen zu sinken beginnen, ziemlich sonderbar. Ob es die Müdigkeit war, jedenfalls wird die Schrift schwer lesbar, und sie springen zu häufig von einem Thema zum nächsten. Zudem lassen es die Aufzeichnungen zum ersten Mal an Objektivität fehlen und überlassen sich persönlichen Betrachtungen. So
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