Die Pest (German Edition)
Zum ersten Mal seit langen Monaten schrieb er, aber mit den größten Schwierigkeiten. Es gab eine Sprache, die ihm abhandengekommen war. Der Brief ging ab. Die Antwort ließ lange auf sich warten. Was Cottard betraf, so hatte er Erfolg, und seine kleinen Spekulationen machten ihn reich. Für Grand dagegen sollten die Feiertage nicht gut verlaufen.
Weihnachten war in jenem Jahr eher das Fest der Hölle als das des Evangeliums. Leere Geschäfte ohne Beleuchtung, Konfektattrappen oder leere Dosen in den Schaufenstern, Straßenbahnen voll düsterer Gesichter – nichts erinnerte an frühere Weihnachten. Das Fest, das früher alle, Arm und Reich, zusammen feierten, ließ nur noch einige einsame und verschämte Festivitäten zu, die sich Privilegierte für teures Geld in einem verdreckten Hinterzimmer erkauften. Die Kirchen waren mehr von Klagen als von Dankgebeten erfüllt. In der trostlosen, frostigen Stadt liefen ein paar Kinder umher, die noch nicht wussten, was sie bedrohte. Aber niemand wagte ihnen den mit Gaben beladenen Gott von einst zu verkünden, alt wie die menschliche Not und neu wie die junge Hoffnung. In den Herzen aller war nur noch Raum für eine uralte und tieftraurige Hoffnung, eben jene, die die Menschen abhält, sich dem Tod zu überlassen und die nur mehr ein bloßes Festklammern am Leben ist.
Einen Tag zuvor war Grand nicht zu einer Verabredung gekommen. Beunruhigt war Rieux am frühen Morgen zu ihm gegangen und hatte ihn nicht angetroffen. Alle waren benachrichtigt worden. Gegen elf Uhr kam Rambert ins Krankenhaus, um dem Arzt zu melden, er habe Grand von weitem mit verzerrtem Gesicht auf der Straße umherirren sehen. Dann hatte er ihn aus den Augen verloren. Der Arzt und Tarrou machten sich im Auto auf die Suche nach ihm.
Um die eiskalte Mittagszeit sah Rieux, der ausgestiegen war, Grand von weitem fast mit der Nase an einem Schaufenster stehen, das voller grob aus Holz geschnitzter Spielsachen war. Über das Gesicht des alten Beamten liefen unentwegt Tränen. Und diese Tränen erschütterten Rieux, weil er sie verstand und weil er sie selbst tief in seiner Kehle spürte. Und auch ihm fiel die Verlobung des Unglücklichen ein, vor einem weihnachtlichen Geschäft, und wie Jeanne sich an ihn geschmiegt und gesagt hatte, sie sei froh. Aus der Tiefe der fernen Jahre, aus dem Innern dieses Wahnsinns stieg sicher Jeannes jugendliche Stimme zu Grand auf. Rieux wusste, was der weinende alte Mann in dieser Minute dachte, und er dachte wie er, dass diese Welt ohne Liebe eine tote Welt war und dass immer eine Stunde kommt, in der man die Gefängnisse, die Arbeit und den Mut leid ist und nach dem Gesicht eines Menschen und dem von Zärtlichkeit verzauberten Herzen verlangt.
Aber der andere erblickte ihn in der Scheibe. Ohne mit Weinen aufzuhören, drehte er sich um und lehnte sich an das Schaufenster, um ihm entgegenzusehen.
«Ach, Herr Doktor, ach, Herr Doktor!», stöhnte er.
Unfähig zu sprechen, nickte Rieux verständnisvoll. Diese Verzweiflung war die seine, und was ihm in diesem Augenblick das Herz umdrehte, war die ungeheure Wut des Menschen angesichts des Schmerzes, den alle Menschen teilen.
«Ja, Grand», sagte er.
«Ich wünschte, ich hätte Zeit, ihr einen Brief zu schreiben. Damit sie weiß … und damit sie ohne Schuldgefühle glücklich sein kann …»
Nahezu gewaltsam stieß Rieux Grand vorwärts. Der ließ sich fast ziehen und stammelte weiter halbe Sätze vor sich hin.
«Das geht schon zu lange. Da hat man Lust, sich gehenzulassen, das ist unvermeidlich. Ach, Herr Doktor, ich wirke ja ruhig. Aber ich musste mich immer ungeheuer zusammenreißen, um nur normal zu sein. Und jetzt, das ist einfach zu viel.»
Am ganzen Körper zitternd und mit irren Augen hielt er inne. Rieux nahm seine Hand. Sie glühte.
«Sie müssen nach Hause.»
Aber Grand entwischte ihm und lief ein paar Schritte, dann blieb er stehen, breitete die Arme aus und schwankte vor und zurück. Er drehte sich um sich selbst und fiel auf den vereisten Bürgersteig; sein Gesicht war von den Tränen verschmiert, die weiter flossen. Die Passanten, die plötzlich stehen geblieben waren, sahen von weitem zu und wagten nicht mehr weiterzugehen. Rieux musste den alten Mann tragen.
Nun lag Grand im Bett und erstickte: die Lungen waren befallen. Rieux überlegte. Der Angestellte hatte keine Familie. Wozu ihn dann wegbringen lassen? Er würde ihn mit Tarrou allein pflegen …
Grand lag tief in seinem Kissen, seine Haut war
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