Die Pest (German Edition)
hören. Sie schienen vor einem fernen Grollen zu fliehen, das allmählich näher kam und schließlich die Straße mit seinem Rauschen erfüllte: Der Regen setzte wieder ein, bald mit Hagel vermischt, der auf die Bürgersteige prasselte. Die langen Vorhänge vor den Fenstern bauschten sich. Im Dunkel des Zimmers betrachtete Rieux, der einen Augenblick vom Regen abgelenkt gewesen war, wieder Tarrou, auf den das Licht einer Nachttischlampe schien. Seine Mutter strickte und hob ab und zu den Kopf, um den Kranken aufmerksam anzusehen. Der Arzt hatte jetzt alles getan, was zu tun war. Nach dem Regen verdichtete sich die Stille im Zimmer, das nur vom stummen Tumult eines unsichtbaren Krieges erfüllt war. Der vor Schlaflosigkeit überreizte Arzt bildete sich ein, an den Grenzen der Stille das leise, stetige Pfeifen zu hören, das ihn während der ganzen Epidemie begleitet hatte. Er machte seiner Mutter ein Zeichen, sie solle schlafen gehen. Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen leuchteten auf, dann überprüfte sie sorgfältig eine Masche an der Spitze ihrer Stricknadeln, an der etwas nicht stimmte. Rieux stand auf, um dem Kranken zu trinken zu geben, dann setzte er sich wieder.
Passanten nutzten das Aufhören des Regens und gingen eilig über den Bürgersteig. Ihre Schritte wurden leiser und entfernten sich. Der Arzt merkte zum ersten Mal, dass diese Nacht, die voll später Spaziergänger und ohne das Gebimmel der Krankenwagen war, denen von früher glich. Es war eine von der Pest erlöste Nacht. Und es schien so, als habe sich die von der Kälte, den Lichtern und der Menge vertriebene Krankheit aus den dunklen Tiefen der Stadt in dieses warme Zimmer geflüchtet, um ihren letzten Ansturm auf Tarrous regungslosen Körper zu führen. Der Dreschflegel wirbelte nicht mehr am Himmel über der Stadt. Aber er pfiff leise in der schwülen Luft des Zimmers. Er war es, den Rieux seit Stunden hörte. Man musste warten, bis er auch dort anhielt, bis die Pest sich auch dort geschlagen gab.
Kurz vor Morgengrauen beugte sich Rieux zu seiner Mutter:
«Du solltest schlafen gehen, damit du mich um acht Uhr ablösen kannst. Mach die Einträufelungen, bevor du zu Bett gehst.»
Madame Rieux erhob sich, legte ihr Strickzeug beiseite und trat ans Bett. Tarrou hielt die Augen schon seit einiger Zeit geschlossen. Madame Rieux seufzte, und der Kranke schlug die Augen auf. Er sah das sanfte Gesicht über sich gebeugt, und unter den aufsteigenden Wellen des Fiebers zeigte sich noch einmal das beharrliche Lächeln. Aber die Augen gingen gleich wieder zu. Als Rieux allein war, setzte er sich in den Sessel, aus dem seine Mutter gerade aufgestanden war. Die Straße war lautlos und die Stille nun vollständig. Die morgendliche Kälte begann im Zimmer spürbar zu werden.
Der Arzt nickte ein, aber das erste Fuhrwerk riss ihn im Morgengrauen aus seinem Schlummer. Er fröstelte, und mit einem Blick auf Tarrou wurde ihm klar, dass eine Pause eingetreten war und der Kranke ebenfalls schlief. Die Räder aus Holz und Eisen des Pferdefuhrwerks rumpelten noch in der Ferne. Vor dem Fenster war der Tag noch dunkel. Als der Arzt ans Bett trat, sah Tarrou ihn mit seinen ausdruckslosen Augen an, als befinde er sich noch auf der Seite des Schlafs.
«Sie haben geschlafen, nicht wahr?», fragte Rieux.
«Ja.»
«Können Sie besser atmen?»
«Ein bisschen. Hat das etwas zu bedeuten?»
Rieux schwieg; nach einer Weile sagte er:
«Nein, Tarrou, das hat nichts zu bedeuten. Sie kennen ja wie ich die morgendliche Besserung.»
Tarrou nickte.
«Danke», sagte er. «Antworten Sie mir immer wahrheitsgemäß.»
Rieux hatte sich ans Fußende des Bettes gesetzt. Er spürte die Beine des Kranken neben sich, lang und hart wie die Glieder einer Grabfigur. Tarrou atmete schwerer.
«Das Fieber wird wiederkommen, nicht wahr, Rieux?», sagte er keuchend.
«Ja, aber mittags werden wir Bescheid wissen.»
Tarrou schloss die Augen und schien seine Kräfte zu sammeln. Auf seinen Zügen wurde ein erschöpfter Ausdruck sichtbar. Er wartete darauf, dass sich das, was sich schon irgendwo in seinem Innern regte, steigern würde. Als er die Augen öffnete, war sein Blick trüb. Er wurde erst klar, als er Rieux sah, der sich zu ihm beugte.
«Trinken Sie», sagte der Arzt.
Der andere trank und ließ den Kopf zurückfallen.
«Es dauert lange», sagte er.
Rieux fasste ihn am Arm, aber Tarrou hatte den Blick abgewandt und reagierte nicht mehr. Plötzlich strömte das Fieber sichtbar
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