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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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sich ergehen, die er selbst bei anderen Kranken vorgenommen hatte.
    «Heute Abend werden wir sehen», sagte Rieux und sah Tarrou gerade an.
    «Und die Isolierung, Rieux?»
    «Es ist ja gar nicht sicher, dass Sie die Pest haben.»
    Tarrou lächelte mühsam.
    «Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie das Serum gespritzt wird, ohne dass gleichzeitig die Isolierung angeordnet wird.»
    Rieux wandte sich ab.
    «Meine Mutter und ich werden Sie pflegen. Hier sind Sie besser aufgehoben.»
    Tarrou schwieg, und der Arzt, der die Ampullen wegräumte, wartete, dass er etwas sagte, um sich umzudrehen. Schließlich trat er ans Bett. Der Kranke sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck war müde, aber seine grauen Augen waren ruhig. Rieux lächelte ihn an.
    «Schlafen Sie, wenn Sie können. Ich komme nachher wieder.»
    An der Tür hörte er Tarrou rufen. Er ging zu ihm zurück.
    Aber Tarrou schien sich gegen das, was er zu sagen hatte, zu wehren.
    «Rieux», brachte er schließlich hervor, «Sie müssen mir alles sagen, ich brauche es.»
    «Ich verspreche es Ihnen.»
    Der andere verzog sein massiges Gesicht zu einem Lächeln.
    «Danke. Ich habe keine Lust zu sterben und werde kämpfen. Aber wenn die Partie verloren ist, will ich ein guter Verlierer sein.»
    Rieux beugte sich vor und drückte ihm die Schulter.
    «Nein», sagte er. «Um ein Heiliger zu werden muss man leben. Kämpfen Sie.»
    Im Lauf des Tages ließ die strenge Kälte etwas nach, aber nur um nachmittags heftigen Regen- und Hagelschauern zu weichen. In der Dämmerung klärte sich der Himmel etwas auf, und die Kälte wurde schneidender. Rieux kam abends nach Hause. Ohne seinen Mantel auszuziehen, ging er in das Zimmer seines Freundes. Seine Mutter strickte. Tarrou schien sich nicht gerührt zu haben, aber seine vom Fieber weißen Lippen sprachen von dem Kampf, den er führte.
    «Nun?», sagte der Arzt.
    Tarrou hob seine mächtigen Schultern etwas aus dem Bett.
    «Nun, ich verliere die Partie», sagte er.
    Der Arzt beugte sich über ihn. Unter der glühenden Haut hatten sich Lymphknoten gebildet, seine Brust schien von sämtlichen Geräuschen einer unterirdischen Schmiede zu hallen. Tarrou wies seltsamerweise beide Symptomreihen auf. Rieux richtete sich wieder auf und sagte, das Serum habe noch keine Zeit gehabt, seine Wirkung ganz zu entfalten. Aber eine Fieberwelle, die Tarrous Kehle überschwemmte, erstickte die paar Worte, die er zu sagen versuchte.
    Nach dem Abendessen setzten sich Rieux und seine Mutter zu dem Kranken. Die Nacht begann für ihn im Kampf, und Rieux wusste, dass dieses harte Ringen mit dem Engel der Pest bis zum Morgengrauen dauern würde. Nicht die kräftigen Schultern und die breite Brust waren Tarrous beste Waffen, sondern eher das Blut, das Rieux vorhin unter seiner Nadel hatte hervorspritzen lassen, und in diesem Blut das, was innerlicher war als die Seele und was keine Wissenschaft ans Licht bringen konnte. Und er musste nur mehr zusehen, wie sein Freund kämpfte. Was er tun würde, die Abszesse, die es zu intensivieren galt, die Stärkungsmittel, die er einspritzen musste – mehrere Monate wiederholter Niederlagen hatten ihn gelehrt, deren Wirksamkeit richtig einzuschätzen. In Wahrheit bestand seine einzige Aufgabe darin, jenem Zufall Gelegenheiten zu bieten, der sich allzu oft nur herbeibemüht, wenn er herausgefordert wird. Und der Zufall musste sich herbeibemühen. Denn Rieux sah sich einem Gesicht der Pest gegenüber, das ihn verwirrte. Einmal mehr legte sie es darauf an, die gegen sie aufgestellten Strategien zu durchkreuzen, tauchte sie an Orten auf, wo man sie nicht erwartete, um von dort zu verschwinden, wo sie sich bereits festgesetzt zu haben schien. Einmal mehr legte sie es darauf an, in Erstaunen zu setzen.
    Tarrou kämpfte reglos. Nicht ein einziges Mal setzte er während der Nacht dem Ansturm des Übels heftige Bewegung entgegen und ging nur mit seiner ganzen Schwere und seinem ganzen Schweigen dagegen an. Aber er sprach auch kein einziges Mal und bekannte so auf seine Weise, dass ihm keine Ablenkung mehr möglich war. Rieux verfolgte die Phasen des Kampfes nur an den Augen seines Freundes, die abwechselnd offen oder geschlossen waren, deren Lider bald fester über dem Augapfel lagen, bald gelöster, und deren Blick auf einen Gegenstand starrte oder sich auf den Arzt und seine Mutter richtete. Jedes Mal, wenn der Arzt diesem Blick begegnete, lächelte Tarrou mit großer Anstrengung.
    Irgendwann waren auf der Straße eilige Schritte zu

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