Die Pest (German Edition)
stören», sagte der Kommissar gereizt.
Aber auf einen Wink von Rieux hin hatte es damit sein Bewenden.
«Sie können sich denken, dass wir andere Sorgen haben, seit es um dieses Fieber geht …», seufzte der Kommissar beim Hinausgehen.
Er fragte den Arzt, ob die Sache ernst sei, und Rieux sagte, er wisse es nicht.
«Es ist ganz einfach das Wetter», schloss der Kommissar.
Es war zweifellos das Wetter. Alles klebte an den Händen, je weiter der Tag voranschritt, und Rieux fühlte seine Besorgnis bei jedem Krankenbesuch wachsen. Am Abend desselben Tages presste ein Nachbar des alten Patienten in der Vorstadt im Delirium die Hände auf seine Leisten und erbrach sich. Die Lymphknoten waren viel dicker als die des Concierge. Der eine fing an zu eitern und brach bald auf wie eine verfaulte Frucht. Wieder zu Hause, rief Rieux im Medikamentenlager des Departements an. Seine beruflichen Aufzeichnungen an diesem Tag lauten nur: «Negative Antwort.» Und schon wurde er von anderswoher zu ähnlichen Fällen gerufen. Die Abszesse mussten geöffnet werden, das war offensichtlich. Zwei kreuzweise Schnitte mit dem Skalpell, und aus den Lymphknoten quoll ein mit Blut vermischter Brei. Die gemarterten Kranken bluteten. Doch am Bauch und an den Beinen traten Flecken auf, ein Lymphknoten hörte auf zu eitern und schwoll dann wieder an. Meistens starb der Kranke in einem entsetzlichen Gestank.
In der Presse, die in der Sache mit den Ratten so beredt gewesen war, stand nichts mehr. Die Ratten sterben eben auf der Straße und die Menschen in ihrem Zimmer. Und die Zeitungen kümmern sich nur um die Straße. Aber die Präfektur und die Stadtverwaltung fingen an, sich Fragen zu stellen. Solange jeder Arzt nur von zwei oder drei Fällen Kenntnis hatte, war niemand auf den Gedanken gekommen, sich zu rühren. Aber eigentlich genügte es, dass jemand darauf kam, sie zusammenzuzählen. Das Ergebnis war bestürzend. In kaum ein paar Tagen vermehrten sich die Todesfälle, und denen, die sich mit dieser seltsamen Krankheit befassten, wurde klar, dass es sich um eine regelrechte Epidemie handelte. Diesen Zeitpunkt wählte Castel, ein sehr viel älterer Kollege, um Rieux zu besuchen.
«Natürlich wissen Sie, was es ist, Rieux?», sagte er.
«Ich warte noch auf die Untersuchungsergebnisse.»
«Ich weiß es. Und ich brauche keine Untersuchungen. Ich habe einen Teil meines Berufslebens in China verbracht, und ich habe vor etwa zwanzig Jahren einige Fälle in Paris gesehen. Nur hat man damals nicht gewagt, ihnen einen Namen zu geben. Die öffentliche Meinung ist heilig: keine Panik, ja keine Panik. Und außerdem, wie ein Kollege sagte: ‹Das ist unmöglich, jeder weiß doch, dass sie im Abendland verschwunden ist.› Ja, jeder wusste es, außer den Toten. Kommen Sie, Rieux, Sie wissen genauso gut wie ich, was es ist.»
Rieux überlegte. Durch das Fenster seines Büros schaute er auf die Schulter der steinigen Klippen, die sich in der Ferne um die Bucht schlossen. Der Himmel war blau, hatte aber einen trüben Glanz, der sich im Laufe des Nachmittags aufhellte.
«Ja, Castel», sagte er, «es ist kaum zu glauben. Aber es scheint wirklich die Pest zu sein.»
Castel stand auf und ging auf die Tür zu.
«Sie wissen ja, was man uns darauf antworten wird», sagte der alte Arzt. «‹Sie ist seit Jahren aus den Ländern mit gemäßigtem Klima verschwunden.›»
«Was heißt das schon, verschwunden?», antwortete Rieux achselzuckend.
«Ja. Und vergessen Sie nicht: vor fast zwanzig Jahren noch in Paris.»
«Gut. Hoffen wir, dass es heute nicht schlimmer wird als damals. Aber es ist wirklich nicht zu glauben.»
Das Wort «Pest» war zum ersten Mal gefallen. An diesem Punkt des Berichts, während Bernard Rieux hinter seinem Fenster steht, sei es dem Erzähler gestattet, die Unsicherheit und Überraschung des Arztes zu rechtfertigen, denn seine Reaktion entsprach, bis auf Nuancen, der der meisten unserer Mitbürger. Plagen sind ja etwas Häufiges, aber es ist schwer, an Plagen zu glauben, wenn sie über einen hereinbrechen. Es hat auf der Welt genauso viele Pestepidemien gegeben wie Kriege. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet. Doktor Rieux war genauso unvorbereitet wie unsere Mitbürger, und von daher muss man sein Zögern verstehen. Von daher muss man auch verstehen, dass er zwischen Beunruhigung und Vertrauen hin und her gerissen war. Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: «Das wird nicht lange dauern, das
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