Die Pest (German Edition)
d’Armes. Cottard schwieg noch immer. Die Straßen wurden allmählich belebter. Die in unserer Gegend schnell vergehende Dämmerung wich schon der Dunkelheit, und die ersten Sterne tauchten am noch deutlich erkennbaren Horizont auf. Ein paar Sekunden später ließ das Lampenlicht über der Straße den ganzen Himmel dunkler erscheinen, und die Gespräche schienen lauter zu werden.
«Entschuldigen Sie mich», sagte Grand an der Ecke der Place d’Armes. «Aber ich muss die Straßenbahn nehmen. Meine Abende sind heilig. Wie man in meiner Heimat sagt: ‹Was du heute kannst besorgen …›»
Rieux war diese Marotte von Grand schon aufgefallen, sich auf Redensarten aus seiner Heimat zu berufen – er war in Montélimar geboren – und dann banale Formulierungen von irgendwoher anzufügen, wie «ein traumhaftes Wetter» oder «eine zauberhafte Beleuchtung». «Oh, das stimmt!», sagte Cottard. «Nach dem Abendessen kann man ihn nicht aus seiner Wohnung locken.»
Rieux fragte Grand, ob er für das Rathaus arbeite. Grand verneinte, er arbeite für sich selbst.
«Aha!», sagte Rieux, um etwas zu sagen. «Und kommen Sie gut voran?»
«Zwangsläufig, da ich seit Jahren daran arbeite. Obwohl ich in anderer Hinsicht keine großen Fortschritte mache.»
«Worum handelt es sich denn eigentlich?», fragte der Arzt und blieb stehen.
Grand rückte seinen runden Hut über seinen großen Ohren zurecht und stammelte etwas. Und Rieux verstand sehr vage, dass es sich um so etwas wie die Entfaltung einer Persönlichkeit handelte. Aber der Angestellte verabschiedete sich schon von ihnen und ging mit schnellen kleinen Schritten unter den Feigenbäumen des Boulevard de la Marne zurück. Vor dem Laboratorium sagte Cottard dem Arzt, er würde ihn gern aufsuchen und um Rat fragen. Rieux, der in seiner Tasche das Blatt mit der Statistik betastete, forderte ihn auf, in seine Sprechstunde zu kommen, besann sich dann anders und sagte, er werde am nächsten Tag in Cottards Viertel sein und am späten Nachmittag bei ihm vorbeikommen.
Als der Arzt sich von Cottard verabschiedet hatte, merkte er, dass er an Grand dachte. Er stellte ihn sich mitten in einer Pest vor, nicht in dieser, die ohne Zweifel nicht ernst würde, sondern in einer der großen Pestseuchen der Geschichte. ‹Er gehört zu den Menschen, die in solchen Fällen verschont bleiben.› Er erinnerte sich, gelesen zu haben, die Pest verschone Leute mit schwacher Konstitution und raffe vor allem kräftige Naturen hin. Und als der Arzt weiter darüber nachdachte, fand er an dem Angestellten etwas irgendwie Geheimnisvolles.
Auf den ersten Blick war Joseph Grand tatsächlich nichts weiter als der kleine Angestellte der Stadtverwaltung, nach dem er aussah. Lang und dünn, steckte er in schlotternder Kleidung, die er in dem Wahn, er könnte sie länger nutzen, immer zu groß kaufte. Er hatte zwar noch fast alle unteren Zähne, die oberen dagegen hatte er alle verloren. Daher ließ sein Lächeln, bei dem er besonders die Oberlippe hochzog, seinen Mund dunkel erscheinen. Wenn man zu diesem Porträt noch einen Seminaristengang, die Kunst, ganz dicht an den Wänden entlangzugehen und in Türen zu schlüpfen, einen Geruch nach Keller und Rauch, alle Verhaltensweisen der Bedeutungslosigkeit hinzufügt, wird klar, dass man ihn sich nirgendwo anders vorstellen konnte als an einem Schreibtisch, wo er beflissen die Preislisten der öffentlichen Brausebäder der Stadt überprüfte oder für einen jungen Schriftführer die Grundlagen für einen Bericht über die neuen Gebühren der Hausmüllabfuhr zusammenstellte. Selbst für einen Unvoreingenommenen schien er dazu geboren, die unauffälligen, aber unentbehrlichen Tätigkeiten einer städtischen Hilfskraft auf Zeit für 62,30 Francs pro Tag auszuüben.
Das war tatsächlich der Vermerk, den er auf dem Einstellungsformular hinter dem Wort «Eignung» eintragen ließ. Als er vor zweiundzwanzig Jahren nach einem Diplom, über das hinaus er mangels Geld nicht weiterstudieren konnte, diese Stelle annahm, hatte man ihm, wie er sagte, Hoffnung auf eine schnelle «Festanstellung» gemacht. Es gehe nur darum, eine Zeitlang seine Kompetenz für die heiklen Probleme in der Verwaltung unseres Gemeinwesens zu beweisen. In der Folge würde er, hatte man ihm versichert, unweigerlich zur Stellung eines Schriftführers aufrücken, die ihm ein gutes Auskommen sichern würde. Es war sicher nicht Ehrgeiz, der Joseph Grand antrieb, dafür stand er mit einem
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