Die Pest (German Edition)
glücklich, wenn es möglich ist, glücklich und trübsinnig auf einmal zu sein. Und eine so friedliche und so gleichmütige Ruhe verleugnete fast mühelos die alten Bilder der Plage: das verpestete und von den Vögeln verlassene Athen, die chinesischen Städte voller still mit dem Tode Ringender, die Zuchthäusler von Marseille, die die zerfließenden Leichen übereinander in Löcher warfen, in der Provence der Bau der großen Mauer, die den verheerenden Pestwind aufhalten sollte, Jaffa und seine grässlichen Bettler, die feuchten, fauligen Betten, die an dem gestampften Boden des Spitals von Konstantinopel klebten, die an Haken gezogenen Kranken, der Karneval der maskierten Ärzte während der Schwarzen Pest, die Paarungen der Lebenden auf den Friedhöfen von Mailand, die Totenkarren im entsetzten London und die überall und immer vom endlosen Schrei der Menschen erfüllten Tage und Nächte. Nein, all das war noch nicht stark genug, um dem Frieden dieses Tages den Garaus zu machen. Jenseits der Scheibe erklang auf einmal das Klingeln einer unsichtbaren Straßenbahn und widerlegte im Nu die Grausamkeit und den Schmerz. Nur das Meer am Ende des stumpfen Schachbrettmusters der Häuser zeugte von dem Beunruhigenden und nie zur Ruhe Kommenden in der Welt. Und Doktor Rieux, der auf den Golf blickte, dachte an jene von Lukrez erwähnten Scheiterhaufen, die die von der Krankheit heimgesuchten Athener am Meer errichteten. Nachts wurden die Toten dort hingetragen, aber es war nicht genug Platz da, und die Lebenden schlugen sich mit Fackeln darum, jene, die ihnen lieb gewesen waren, dort abzulegen, und führten lieber blutige Kämpfe, als dass sie ihre Leichen im Stich ließen. Man konnte sich die glühenden Scheiterhaufen vor dem ruhigen dunklen Wasser vorstellen, die Fackelkämpfe in der funkensprühenden Nacht mit dichten giftigen Dämpfen, die in den aufnahmebereiten Himmel aufstiegen. Man konnte befürchten …
Aber dieser Taumel hielt der Vernunft nicht stand. Es stimmte, dass das Wort «Pest» gefallen war, es stimmte, dass die Plage im selben Augenblick ein oder zwei Opfern zusetzte und sie niederwarf. Aber das konnte ja aufhören. Was getan werden musste, war, klar zu erkennen, was erkannt werden musste, die nutzlosen Schatten endlich zu vertreiben und die angemessenen Maßnahmen zu ergreifen. Dann würde die Pest aufhören, weil die Pest nicht vorstellbar oder nur falsch vorstellbar war. Wenn sie aufhörte, und das war das Wahrscheinlichste, dann würde alles gutgehen. Andernfalls würde man wissen, was sie war und ob es nicht möglich war, sich zunächst einmal mit ihr abzufinden, um ihrer dann Herr zu werden.
Der Arzt öffnete das Fenster, und der Lärm der Stadt schwoll mit einem Schlag an. Aus einer Werkstatt nebenan drang das kurze, wiederholte Kreischen einer mechanischen Säge. Rieux schüttelte sich. Darin lag die Gewissheit, in der alltäglichen Arbeit. Das Übrige hing an Fäden und an geringfügigen Bewegungen, damit konnte man sich nicht aufhalten. Die Hauptsache war, seinen Beruf gut auszuüben.
So weit war Doktor Rieux mit seinen Überlegungen, als ihm Joseph Grand gemeldet wurde. Da er im Rathaus angestellt war und obwohl seine Tätigkeiten dort sehr vielfältig waren, wurde er in regelmäßigen Abständen in der statistischen Abteilung des Standesamts verwendet. So war er gehalten, die Sterbefälle zusammenzuzählen. Und da er gefällig war, hatte er eingewilligt, Rieux eine Abschrift seiner Ergebnisse zu bringen.
Der Arzt sah Grand mit seinem Nachbarn Cottard hereinkommen. Der Angestellte schwenkte ein Blatt Papier.
«Die Zahlen steigen, Doktor», verkündete er. «Elf Tote in achtundvierzig Stunden.»
Rieux begrüßte Cottard und fragte ihn, wie er sich fühle. Grand erklärte, Cottard habe darauf bestanden, sich bei dem Arzt zu bedanken und sich für die Ungelegenheiten zu entschuldigen, die er ihm bereitet hatte. Aber Rieux sah sich das Blatt mit den Statistiken an:
«Nun, man muss sich vielleicht entschließen, diese Krankheit beim Namen zu nennen», sagte Rieux. «Bis jetzt treten wir auf der Stelle. Aber kommen Sie doch mit, ich muss ins Laboratorium.»
«Ja, ja», sagte Grand, während er hinter dem Arzt die Treppe hinunterging. «Man muss die Dinge beim Namen nennen. Aber welcher Name ist es?»
«Ich kann es Ihnen nicht sagen, und außerdem würde es Ihnen nichts nützen.»
«Sehen Sie», sagte der Angestellte lächelnd. «So einfach ist das nicht.»
Sie gingen zur Place
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