Die Pest (German Edition)
ist doch zu dumm.» Und zweifellos ist ein Krieg mit Sicherheit zu dumm, aber er dauert trotzdem lange. Dummheit ist immer beharrlich, wenn man nicht immer an sich selbst dächte, würde man das merken. In dieser Hinsicht waren unsere Mitbürger wie jedermann, sie dachten an sich selbst, anders gesagt, sie waren Humanisten: Sie glaubten nicht an die Plagen. Eine Plage ist nicht auf den Menschen zugeschnitten, daher sagt man sich, dass sie unwirklich ist, ein böser Traum, der vorübergehen wird. Aber er geht nicht immer vorüber, und von einem bösen Traum zum nächsten sterben Menschen, und die Humanisten zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben. Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergaßen einfach nur, bescheiden zu sein, und sie dachten, alles sei für sie noch möglich, was voraussetzt, dass Plagen unmöglich sind. Sie machten weiter Geschäfte, sie bereiteten Reisen vor, und sie hatten Meinungen. Wie hätten sie an die Pest denken sollen, die Zukunft, Ortsveränderungen und Diskussionen aufhebt? Sie hielten sich für frei, und niemand wird je frei sein, solange es Plagen gibt.
Selbst als Doktor Rieux seinem Freund gegenüber zugegeben hatte, dass eine Handvoll verstreuter Kranker ohne Vorwarnung an der Pest gestorben war, blieb die Gefahr für ihn unwirklich. Nur, wenn man Arzt ist, hat man eine Vorstellung vom Schmerz bekommen, und man hat etwas mehr Phantasie. Kaum dass der Arzt, während er aus dem Fenster auf seine Stadt sah, die sich nicht verändert hatte, jenen leichten Ekel vor der Zukunft in sich aufkommen spürte, den man Besorgnis nennt. Er versuchte, in seinem Kopf zusammenzubringen, was er über diese Krankheit wusste. Zahlen schwirrten durch sein Gedächtnis, und er sagte sich, dass die etwa dreißig großen Pestepidemien, die es in der Geschichte gegeben hatte, fast hundert Millionen Tote gefordert hatten. Aber was sind hundert Millionen Tote? Wenn man den Krieg mitgemacht hat, weiß man kaum, was ein Toter überhaupt ist. Und da ein toter Mensch nur von Bedeutung ist, wenn man ihn tot gesehen hat, sind hundert Millionen über die Geschichte verstreute Leichen in der Vorstellung nur Rauch. Der Arzt erinnerte sich an die Pest von Konstantinopel, die laut Prokopios an einem Tag zehntausend Opfer gefordert hatte. Zehntausend Tote sind fünf Mal so viel wie die Zuschauer in einem großen Kino. Das sollte man machen. Man sammelt die Leute am Ausgang von fünf Kinos, führt sie auf einen Platz der Stadt und lässt sie auf einem Haufen sterben, um ein bisschen klar zu sehen. Dann könnte man diesen anonymen Wust wenigstens mit bekannten Gesichtern versehen. Aber das ist natürlich nicht durchführbar, und außerdem, wer kennt schon zehntausend Gesichter? Im Übrigen konnten Leute wie Prokopios nicht zählen, das weiß man ja. Vor siebzig Jahren waren in Kanton vierzigtausend Ratten an der Pest gestorben, bevor die Geißel sich für die Bewohner interessierte. Aber 1871 hatte man nicht die Mittel, die Ratten zu zählen. Man rechnete annähernd, in groben Zahlen, mit offensichtlichen Fehlerquellen. Trotzdem, wenn eine Ratte dreißig Zentimeter lang ist, ergäben vierzigtausend Ratten hintereinander …
Aber der Arzt verlor die Geduld. Er ließ sich gehen, und das durfte er nicht. Einige Fälle machen noch keine Epidemie, und es genügt, Vorkehrungen zu treffen. Man musste sich an das halten, was man wusste, die Benommenheit und den Kräfteverfall, die roten Augen, den verunreinigten Mund, die Kopfschmerzen, die Drüsengeschwulste, den furchtbaren Durst, das Delirieren, die Flecken auf dem Körper, das innere Zerrissenwerden und am Ende von all dem … Am Ende von all dem fiel Doktor Rieux ein Satz ein, und zwar genau der, der in seinem Lehrbuch die Aufzählung der Symptome abschloss: «Der Puls wird sehr schwach, und der Tod tritt bei irgendeiner geringen Bewegung ein.» Ja, am Ende von all dem hing man an einem Faden, und drei Viertel der Leute, so die genaue Zahl, waren ungeduldig genug, um diese unmerkliche Bewegung zu machen, die sie in den Tod stürzte.
Der Arzt sah noch immer aus dem Fenster. Auf der einen Seite der Scheibe der frische Frühlingshimmel, auf der anderen das Wort, das noch im Zimmer nachhallte: die Pest. Das Wort enthielt nicht nur das, was die Wissenschaft gern hineinlegte, sondern eine lange Folge außergewöhnlicher Bilder, die nicht zu dieser gelbgrauen Stadt passten, die um diese Zeit mäßig belebt war, eher summend als laut, kurz und gut,
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