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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Wörter «blühende Alleen» lesen konnte. Grand zufolge hatte Cottard eine ruhige Nacht gehabt. Aber morgens war er mit Kopfschmerzen und zu keiner Reaktion fähig aufgewacht. Grand wirkte müde und nervös, ging hin und her und klappte auf dem Tisch einen dicken Ordner voll handbeschriebener Blätter auf und zu.
    Währenddessen erzählte er dem Arzt, dass er Cottard nicht gut kenne, jedoch vermute, dass er über ein kleines Guthaben verfüge. Cottard sei ein sonderbarer Mensch. Ihre Beziehung habe sich lange auf gelegentliches Grüßen im Treppenhaus beschränkt.
    «Ich habe mich nur zweimal mit ihm unterhalten. Vor ein paar Tagen habe ich auf dem Treppenabsatz eine Schachtel Kreide fallen lassen, die ich mitgebracht hatte. Es war rote und blaue Kreide. In dem Moment ist Cottard aus seiner Wohnung gekommen und hat mir geholfen, sie aufzuheben. Er hat mich gefragt, wozu diese Kreide in verschiedenen Farben benutzt werde.»
    Grand hatte ihm darauf erklärt, er versuche, sein Latein ein wenig aufzufrischen. Seit dem Gymnasium habe er viel verlernt.
    «Ja», sagte er zu dem Arzt, «man hat mir versichert, es sei nützlich, um den Sinn der französischen Wörter besser zu kennen.»
    Er schrieb also lateinische Wörter an seine Wandtafel. Mit blauer Kreide schrieb er den Teil der Wörter, der sich je nach Deklination und Konjugation änderte, und mit roter Kreide den, der sich nie änderte.
    «Ich weiß nicht, ob Cottard es richtig verstanden hat, aber er wirkte interessiert und hat mich um ein Stück rote Kreide gebeten. Das überraschte mich ein bisschen, aber schließlich … Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass das seinem Vorhaben dienen würde.»
    Rieux fragte, worüber sie bei ihrer zweiten Unterhaltung gesprochen hätten. Aber da erschien der Kommissar in Begleitung seines Sekretärs und wollte zuerst Grands Aussagen hören. Dem Arzt fiel auf, dass Grand von Cottard immer als von «dem Verzweifelten» sprach. Irgendwann benutzte er sogar den Ausdruck «verhängnisvoller Entschluss». Sie erörterten das Motiv für den Selbstmord, und Grand war peinlich genau in der Wortwahl. Man einigte sich schließlich auf «persönlicher Kummer». Der Kommissar fragte, ob etwas an Cottards Verhalten «seinen Entschluss», wie er es nannte, habe vorhersehen lassen.
    «Er hat gestern an meine Tür geklopft», sagte Grand, «und mich um Streichhölzer gebeten. Ich habe ihm meine Schachtel gegeben. Er hat sich damit entschuldigt, dass man unter Nachbarn … Er hat mir versichert, er bringe mir meine Schachtel zurück. Ich habe ihm gesagt, er solle sie behalten.»
    Der Kommissar fragte den Angestellten, ob Cottard ihm sonderbar vorgekommen sei.
    «Was mir sonderbar vorkam, war, dass er sich unterhalten zu wollen schien. Aber ich war bei der Arbeit.»
    Grand wandte sich an Rieux und fügte verlegen hinzu:
    «Einer persönlichen Arbeit.»
    Der Kommissar wollte jetzt den Kranken sehen. Aber Rieux hielt es für besser, Cottard erst auf diesen Besuch vorzubereiten. Als er das Zimmer betrat, saß dieser, nur mit einem gräulichen Flanellhemd bekleidet, aufrecht, mit ängstlichem Ausdruck der Tür zugewandt, im Bett.
    «Das ist die Polizei, nicht?»
    «Ja», sagte Rieux, «regen Sie sich nicht auf. Zwei oder drei Formalitäten, und dann haben Sie Ruhe.»
    Aber Cottard antwortete, das sei nutzlos, und er könne die Polizei nicht leiden. Rieux zeigte Ungeduld.
    «Ich liebe sie auch nicht. Es geht darum, ihre Fragen schnell und korrekt zu beantworten, um es ein für alle Mal hinter sich zu bringen.»
    Cottard schwieg, und der Arzt ging wieder zur Tür. Aber der kleine Mann rief ihm nach und nahm seine Hände, als er am Bett war.
    «Man kann doch einem Kranken, einem Mann, der sich aufgehängt hat, nichts anhaben, nicht wahr, Herr Doktor?»
    Rieux sah ihn einen Augenblick an und versicherte ihm schließlich, von so etwas sei nie die Rede gewesen, und außerdem sei er da, um seinen Kranken zu schützen. Der schien sich zu entspannen, und Rieux ließ den Kommissar hereinkommen.
    Cottard wurde Grands Zeugenaussage vorgelesen, und er wurde gefragt, ob er die Motive für seine Tat erläutern könne. Er antwortete nur, und ohne den Kommissar anzusehen, «persönlicher Kummer» sei sehr gut. Der Kommissar bedrängte ihn zu sagen, ob er es noch einmal tun wolle. Etwas lebhafter antwortete Cottard mit Nein und dass er nur wünsche, in Frieden gelassen zu werden.
    «Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass im Augenblick Sie den Frieden der anderen

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