Die Pest (German Edition)
schimmerten schwach in der einsetzenden Dunkelheit. Inmitten des leeren Lokals wirkte Rambert wie ein verlorener Schatten, und Rieux dachte, dies sei die Stunde seiner Verlassenheit. Aber es war auch der Augenblick, da alle anderen Gefangenen dieser Stadt sich verlassen fühlten, und es musste etwas für sie getan werden, um ihre Erlösung zu beschleunigen. Rieux wandte sich ab.
Rambert verbrachte auch viel Zeit im Bahnhof. Das Betreten der Bahnsteige war verboten. Aber die Wartesäle, die von außen zugänglich waren, blieben geöffnet, und manchmal ließen sich Bettler an heißen Tagen darin nieder, weil sie schattig und kühl waren. Rambert kam dorthin und las alte Fahrpläne, die Schilder, die das Spucken verboten, und die Vorschriften der Bahnpolizei. Dann setzte er sich in eine Ecke. Der Saal war dunkel. Zwischen den achtförmigen Spuren früheren Besprengens kühlte ein alter gusseiserner Ofen seit Monaten ab. An der Wand warben einige Plakate für ein glückliches und freies Leben in Bandol oder Cannes. Rambert erreichte hier jene entsetzliche Freiheit, die man in der tiefsten Not findet. Die Bilder, die er dann – zumindest demzufolge, was er Rieux sagte – am schwersten ertragen konnte, waren die von Paris. Eine Landschaft aus alten Steinen und Wassern, die Tauben vom Palais-Royal, die Gare du Nord, die menschenleeren Viertel am Pantheon und ein paar andere Orte einer Stadt, von der er nicht wusste, dass er sie so sehr geliebt hatte, verfolgten Rambert dann und machten es ihm unmöglich, irgendetwas Bestimmtes zu tun. Rieux dachte nur, er setze diese Bilder mit denen seiner Liebe gleich. Und an dem Tag, als Rambert ihm sagte, er liebe es, um vier Uhr morgens aufzuwachen und an seine Stadt zu denken, fiel es dem Arzt nicht schwer, aus seiner eigenen Erfahrung heraus zu übersetzen, dass er es liebte, sich dann die Frau vorzustellen, die er zurückgelassen hatte. Das war nämlich die Stunde, wenn er sie sich aneignen konnte. Um vier Uhr morgens tut man im Allgemeinen nichts, man schläft, auch wenn die Nacht eine Nacht des Verrats gewesen ist. Ja, um diese Zeit schläft man, und das ist beruhigend, denn die große Sehnsucht eines unruhigen Herzens ist es, den geliebten Menschen unaufhörlich zu besitzen oder diesen Menschen, wenn die Zeit der Abwesenheit gekommen ist, in einen traumlosen Schlaf zu versenken, der erst am Tag der Wiedervereinigung enden würde.
Kurz nach der Predigt fing die große Hitze an. Der Monat Juni ging dem Ende entgegen. Am Tag nach den späten Regenfällen, die den Sonntag der Predigt geprägt hatten, brach der Sommer mit einem Schlag am Himmel und über den Häusern aus. Zuerst erhob sich ein starker, glühender Wind, der einen Tag lang wehte und die Häuser austrocknete. Die Sonne wurde beständig. Ununterbrochene Ströme von Hitze und Licht überfluteten von früh bis spät die Stadt. Es war, als gebe es außerhalb der Straßen mit Arkaden und der Wohnungen keinen Punkt in der Stadt, der nicht der blendendsten Reflexion ausgesetzt war. Die Sonne verfolgte unsere Mitbürger in alle Straßenwinkel, und wenn sie stehen blieben, knallte sie auf sie. Da diese erste große Hitze mit einem steilen Ansteigen der Zahl der Opfer zusammenfiel, die sich auf fast siebenhundert in der Woche belief, bemächtigte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit der Stadt. Die Vorstädte, die offenen Straßen und die Häuser mit Terrassen waren weniger belebt, und in dem Viertel, wo die Leute immer vor der Haustür lebten, waren alle Türen geschlossen und die Jalousien heruntergelassen, ohne dass man sagen konnte, ob man sich so vor der Pest oder vor der Hitze schützen wollte. Aus einigen Häusern drang jedoch Stöhnen. Wenn das früher vorkam, sah man immer Neugierige auf der Straße stehen und horchen. Aber nach dieser langen Schreckenszeit schien das Herz jedes Einzelnen sich verhärtet zu haben, und alle gingen oder lebten neben den Klagelauten her, als seien sie die natürliche Sprache der Menschen gewesen.
Die Zusammenstöße an den Toren, in deren Verlauf die Gendarmen Gebrauch von ihren Waffen hatten machen müssen, riefen eine dumpfe Erregung hervor. Es hatte bestimmt Verletzte gegeben, aber in der Stadt, wo infolge der Hitze und der Angst alles übertrieben wurde, sprach man von Toten. Jedenfalls stimmte es, dass die Unzufriedenheit ständig zunahm, dass unsere Behörden das Schlimmste befürchtet und allen Ernstes die Maßnahmen erwogen hatten, die zu ergreifen wären, wenn diese
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