Die Pest (German Edition)
von der Seuche in Schach gehaltene Bevölkerung sich erhoben hätte. Die Zeitungen veröffentlichten Verordnungen, die das Ausgehverbot erneuerten und Zuwiderhandelnden Gefängnisstrafen androhten. Patrouillen durchstreiften die Stadt. Oft sah man in den menschenleeren, überhitzten Straßen zunächst vom Klappern der Hufe auf dem Pflaster angekündigte Wachen zu Pferde, die zwischen Reihen geschlossener Fenster hindurchritten. War die Patrouille verschwunden, senkte sich wieder eine drückende, misstrauische Stille auf die bedrohte Stadt. Ab und zu knallten die Schüsse der Spezialtrupps, die aufgrund einer kürzlich erlassenen Verordnung den Auftrag hatten, Hunde und Katzen zu töten, die Flöhe hätten übertragen können. Diese scharfen Detonationen trugen noch dazu bei, die Stadt in eine Alarmstimmung zu versetzen.
In der Hitze und der Stille und für das verängstigte Herz unserer Mitbürger nahm im Übrigen alles eine größere Bedeutung an. Die Farben des Himmels und die Gerüche der Erde, die den Übergang der Jahreszeiten ausmachen, waren zum ersten Mal für alle wahrnehmbar. Jeder begriff mit Schrecken, dass die Hitze die Epidemie verstärken würde, und gleichzeitig sah jeder, dass der Sommer sich einrichtete. Der Schrei der Mauersegler am Abendhimmel über der Stadt wurde dünner. Er war den Junidämmerungen nicht mehr gewachsen, die in unserem Land den Horizont weiter machen. Die Blumen kamen nicht mehr als Knospen auf die Märkte, sie blühten schon, und nach dem morgendlichen Verkauf waren die staubigen Bürgersteige mit ihren Blütenblättern übersät. Man merkte deutlich, dass der Frühling sich erschöpft hatte, dass er sich in Tausenden von ringsum erblühten Blumen verausgabt hatte und jetzt unter dem doppelten Druck der Pest und der Hitze langsam erschlaffen und ersticken würde. Für alle unsere Mitbürger hatten dieser Sommerhimmel, diese unter den Schattierungen des Staubes und der Langeweile verblassten Straßen den gleichen bedrohlichen Sinn wie die hundert Toten, die die Stadt jeden Tag belasteten. Die ständige Sonne, diese Stunden mit dem Aroma von Schlaf und Ferien luden nicht mehr wie früher zur Feier des Wassers und des Körpers ein. Sie klangen im Gegenteil hohl in der geschlossenen, stillen Stadt. Sie hatten den Kupferglanz der glücklichen Zeiten eingebüßt. Die Sonne der Pest löschte alle Farben und vertrieb jede Freude.
Das war eine der großen Umwälzungen, die die Krankheit hervorrief. Gewöhnlich begrüßten alle unsere Mitbürger den Sommer mit Jubel. Die Stadt öffnete sich dann zum Meer hin und ergoss ihre Jugend auf die Strände. In diesem Sommer dagegen war das nahe Meer verboten, und der Körper hatte kein Recht mehr auf seine Freuden. Was konnte man unter solchen Umständen tun? Wieder ist es Tarrou, der das getreuste Bild unseres damaligen Lebens vermittelt. Er verfolgte selbstverständlich das Fortschreiten der Pest im Allgemeinen und notierte zu Recht, dass der Rundfunk eine Wendung der Epidemie deutlich gemacht hatte, als er nicht mehr Hunderte von Todesfällen pro Woche meldete, sondern zweiundneunzig, hundertsieben und hundertzwanzig Tote pro Tag. «Die Zeitungen und die Behörden versuchen die Pest übers Ohr zu hauen. Sie bilden sich ein, sie jagten ihr Punkte ab, weil hundertdreißig eine weniger große Zahl ist als neunhundertzehn.» Er erwähnte auch die rührenden oder spektakulären Seiten der Epidemie, wie jene Frau, die in einem ausgestorbenen Viertel mit geschlossenen Jalousien über ihm plötzlich ein Fenster geöffnet und zwei laute Schreie ausgestoßen hatte, bevor sie die Läden wieder über dem dichten Dunkel des Zimmers zugeschlagen hatte. Aber andererseits notierte er, dass die Pfefferminzpastillen aus den Apotheken verschwunden waren, weil viele Leute sie lutschten, um sich vor einer möglichen Ansteckung zu schützen.
Er beobachtete auch weiter seine Lieblingsfiguren. Man erfuhr, dass auch der kleine Alte mit den Katzen eine Tragödie erlebte. Eines Morgens nämlich hatten Schüsse geknallt, und, wie Tarrou schrieb, einige Schrotsplitter hatten die meisten Katzen getötet und die anderen erschreckt, die daraufhin die Straße verlassen hatten. Am selben Tag war der kleine Alte zur gewohnten Zeit auf den Balkon getreten, hatte eine gewisse Überraschung gezeigt, hatte sich vorgebeugt, die Straße von einem Ende zum andern abgesucht und sich damit abgefunden zu warten. Seine Hand klopfte in kurzen Schlägen auf das Balkongitter. Er hatte
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