Die Pest (German Edition)
von Rieux behandelten alten Asthmatiker.
Er hatte ihn mit dem Arzt nach ihrer Unterredung besucht. Der Alte hatte Tarrou grinsend und händereibend begrüßt. Er saß im Bett, gegen sein Kopfkissen gelehnt, über seinen beiden Kochtöpfen mit Erbsen: «Aha, noch einer!», hatte er gesagt, als er Tarrou sah. «Das ist die verkehrte Welt, mehr Ärzte als Kranke. Das geht ganz schön schnell, was? Der Pfarrer hat recht, es ist wohlverdient.» Am nächsten Tag war Tarrou unangemeldet wiedergekommen.
Seinem Tagebuch zufolge hatte der alte Asthmatiker, von Beruf Kurzwarenhändler, mit fünfzig Jahren befunden, er habe genug getan. Er hatte sich ins Bett gelegt und war seither nicht wieder aufgestanden. Dabei ließ sich sein Asthma mit einer stehenden Haltung durchaus vereinbaren. Eine kleine Rente hatte ihn bis ins Alter von fünfundsiebzig Jahren gebracht, für die er noch rüstig war. Er konnte den Anblick einer Uhr nicht ertragen, und tatsächlich gab es in seinem ganzen Haus keine einzige. «Eine Uhr ist teuer und dumm», sagte er. Er schätzte die Uhrzeit und vor allem die Essenszeit, die ihm als einzige wichtig war, nach seinen beiden Töpfen, von denen der eine voll Erbsen war, wenn er aufwachte. Erbse für Erbse füllte er mit der immer gleichen konzentrierten, stetigen Bewegung in den anderen. So fand er sich in einem mit dem Topf gemessenen Tagesverlauf zurecht.
«Alle fünfzehn Kochtöpfe brauche ich was zu essen», sagte er. «Das ist ganz einfach.»
Wenn man übrigens seiner Frau glauben wollte, hatte er schon in sehr jungen Jahren Anzeichen für seine Berufung gezeigt. Nichts hatte ihn nämlich je interessiert, weder seine Arbeit noch die Freunde, noch das Café, noch die Musik, noch die Frauen, noch Spaziergänge. Er hatte nie seine Stadt verlassen, außer eines Tages, als er in Familienangelegenheiten nach Algier musste und am ersten Bahnhof nach Oran, unfähig, das Abenteuer fortzusetzen, ausgestiegen war. Er war mit dem ersten Zug wieder nach Hause gefahren.
Tarrou gegenüber, der sich etwas über das eingeschlossene Leben zu wundern schien, hatte er ungefähr erklärt, dass der Religion zufolge die erste Hälfte eines Menschenlebens ein Aufstieg und die zweite ein Abstieg sei, dass während des Abstiegs dem Menschen seine Tage nicht mehr gehörten, dass sie ihm jeden Augenblick genommen werden könnten, dass er also nichts mit ihnen anfangen könne und es am besten sei, eben nichts damit anzufangen. Er schreckte übrigens nicht vor Widersprüchlichem zurück, denn kurz darauf hatte er zu Tarrou gesagt, Gott existiere sicher nicht, da im gegenteiligen Fall die Pfarrer überflüssig wären. Aber an einigen folgenden Überlegungen erkannte Tarrou, dass diese Philosophie eng mit der Verstimmung zusammenhing, die die häufigen Sammlungen seiner Pfarrgemeinde bei ihm auslösten. Doch was das Bild des Greises vervollständigte, ist ein anscheinend inniger Wunsch, den er seinem Gesprächspartner gegenüber wiederholt äußerte: Er hoffte, sehr alt zu sterben.
«Ist er ein Heiliger?», fragte sich Tarrou. Und er antwortete: «Ja, wenn Heiligkeit ein Zusammenwirken von Gewohnheiten ist.»
Aber gleichzeitig unternahm Tarrou eine ziemlich eingehende Beschreibung eines Tages in der verpesteten Stadt und lieferte so eine genaue Vorstellung von den Beschäftigungen und vom Leben unserer Mitbürger in jenem Sommer: «Niemand lacht, außer den Betrunkenen, und die lachen zu viel», schrieb Tarrou. Dann machte er sich an seine Beschreibung:
«Frühmorgens weht ein leichter Wind durch die noch ausgestorbene Stadt. Um diese Stunde zwischen den Toten der Nacht und den Sterbenden des Tages scheint die Pest ihr Wüten zu unterbrechen und wieder Atem zu schöpfen. Alle Läden sind geschlossen. Aber an einigen zeugt das Schild ‹Wegen Pest geschlossen› davon, dass sie nachher nicht mit den anderen wieder öffnen werden. Noch schläfrige Zeitungsverkäufer rufen nicht die Nachrichten aus, sondern bieten ihre Ware an Straßenecken gelehnt mit schlafwandlerischer Geste den Laternen dar. Gleich werden sie, von den ersten Straßenbahnen geweckt, in die ganze Stadt ausschwärmen und mit ausgestrecktem Arm die Blätter halten, auf denen das Wort ‹Pest› hervorspringt. ‹Wird es einen Pestherbst geben? Professor B … antwortet: Nein.› ‹Hundertvierundzwanzig Tote – die Bilanz des vierundneunzigsten Pesttages.›
Trotz des Papiermangels, der sich immer mehr zuspitzt und manche Zeitschriften zur Verringerung ihres
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