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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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anderen Betten stöhnten und bewegten sich Gestalten, aber mit einer nie abgesprochenen Zurückhaltung. Der Einzige, der am anderen Ende des Raumes wimmerte, stieß in regelmäßigen Abständen kurze Schreie aus, die mehr Erstaunen als Schmerz auszudrücken schienen. Es war, als wenn sogar die Kranken nicht mehr das Grausen des Anfangs empfänden. In der Art, wie sie die Krankheit aufnahmen, lag jetzt so etwas wie Einwilligung. Nur das Kind wehrte sich aus Leibeskräften. Rieux, der ihm hin und wieder den Puls fühlte – ohne Notwendigkeit übrigens und eher, um aus seiner ohnmächtigen Bewegungslosigkeit herauszukommen –, spürte, wenn er die Augen schloss, wie diese Erregung sich mit dem Tosen seines eigenen Blutes vermischte. Er verschmolz dann mit dem gequälten Kind und versuchte ihm mit seiner ganzen unverbrauchten Kraft beizustehen. Aber nach einer Minute der Vereinigung gerieten die Pulsschläge ihrer Herzen aus dem Gleichtakt, das Kind entglitt ihm, und seine Anstrengung ging in der Leere unter. Dann ließ er das schmale Handgelenk los und trat an seinen Platz zurück.
    An den getünchten Mauern ging das Licht von Rosa zu Gelb über. Hinter der Scheibe begann ein heißer Vormittag zu knistern. Kaum hörte man Grand weggehen und sagen, er komme wieder. Alle warteten. Das Kind hatte noch immer die Augen geschlossen und schien sich etwas zu beruhigen. Die Hände, die wie Krallen geworden waren, bearbeiteten leicht die Seiten des Bettes. Sie wanderten nach oben, kratzten in Kniehöhe die Decke, und plötzlich beugte das Kind die Knie, zog die Schenkel zum Bauch und bewegte sich nicht mehr. Dann schlug es zum ersten Mal die Augen auf und sah Rieux an, der vor ihm stand. In seinem jetzt zu grauem Ton erstarrten Gesicht öffnete sich der Mund, und fast sofort kam ein einziger, von der Atmung kaum veränderter, anhaltender Schrei heraus, der plötzlich den Raum mit einem monotonen, misstönenden Protest erfüllte, so wenig menschlich, dass er von allen Menschen zugleich zu kommen schien. Rieux biss die Zähne zusammen, und Tarrou wandte sich ab. Rambert trat ans Bett neben Castel, der das offen auf seinem Schoß liegende Buch zuklappte. Paneloux sah diesen von der Krankheit besudelten, vom Schrei aller Zeiten erfüllten Kindermund an. Und er sank auf die Knie, und alle fanden es normal, ihn mit etwas gedämpfter, aber trotz der namenlosen, unaufhörlichen Klage deutlicher Stimme sagen zu hören: «Mein Gott, rette dieses Kind.»
    Aber das Kind schrie weiter, und die Kranken ringsum wurden unruhig. Der eine, dessen Schreie am anderen Ende des Raumes nicht aufgehört hatten, beschleunigte den Rhythmus seines Jammerns, bis auch dieses ein richtiger Schrei wurde, während die anderen lauter und lauter stöhnten. Eine Flut von Schluchzen brandete durch den Raum und übertönte Paneloux’ Gebet, und Rieux, der das Bettgestell umklammerte, schloss, trunken vor Müdigkeit und Ekel, die Augen.
    Als er sie wieder aufmachte, sah er Tarrou neben sich stehen.
    «Ich muss gehen», sagte Rieux. «Ich kann sie nicht mehr ertragen.»
    Aber plötzlich verstummten die anderen Kranken. Da merkte der Arzt, dass der Schrei des Kindes leiser geworden war, noch leiser wurde und dann aufhörte. Ringsum fing das Jammern wieder an, aber gedämpft, wie ein fernes Echo des gerade zu Ende gegangenen Kampfes. Denn er war zu Ende. Castel war an die andere Seite des Bettes getreten und sagte, es sei zu Ende. Mit offenem Mund, aber stumm, lag das Kind tief in den zerwühlten Decken; es war auf einmal kleiner geworden, und auf seinem Gesicht waren noch Spuren von Tränen.
    Paneloux trat ans Bett und machte die Gesten des Segnens. Dann raffte er seine Soutane zusammen und ging durch den Mittelgang hinaus.
    «Muss alles von vorn angefangen werden?», fragte Tarrou Castel.
    Der alte Arzt schüttelte den Kopf.
    «Vielleicht», sagte er mit einem verkrampften Lächeln. «Schließlich hat er lange durchgehalten.»
    Aber Rieux verließ schon mit stürmischen Schritten und einem solchen Ausdruck den Raum, dass Paneloux, als er von ihm überholt wurde, den Arm ausstreckte, um den Arzt aufzuhalten.
    «Na, Herr Doktor», sagte er.
    Mit demselben Ungestüm drehte Rieux sich um und schleuderte ihm entgegen: «Ah, der hier zumindest war unschuldig, das wissen Sie genau!»
    Dann wandte er sich ab, trat vor Paneloux durch die Tür und ging hinten auf den Schulhof. Er setzte sich zwischen den staubigen kleinen Bäumen auf eine Bank und wischte sich den Schweiß

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