Die Pest (German Edition)
sollte, sah Tarrou auf seine Uhr. Als er den Kopf hob, begegnete er Ramberts Blick.
«Haben Sie Bescheid gesagt?»
Der Journalist wandte die Augen ab.
«Ich habe ihnen ein paar Zeilen geschickt, bevor ich zu Ihnen gegangen bin», sagte er mühsam.
In den letzten Oktobertagen wurde Castels Serum ausprobiert. Es war praktisch Rieux’ letzte Hoffnung. Der Arzt war überzeugt, dass die Stadt im Fall eines neuerlichen Misserfolgs den Launen der Krankheit ausgeliefert sein würde, sei es, dass die Epidemie noch monatelang weiterwütete, sei es, dass sie sich entschloss, ohne Grund aufzuhören.
Am Vorabend des Tages, an dem Castel Rieux besuchte, war der Sohn von Monsieur Othon krank geworden, und die ganze Familie hatte sich in Quarantäne begeben müssen. Die Mutter, die erst kurz zuvor entlassen worden war, sah sich also zum zweitenmal isoliert. Den Vorschriften gehorchend, hatte der Richter, sobald er bei dem Kind die Krankheitszeichen erkannt hatte, Doktor Rieux rufen lassen. Als Rieux kam, standen der Vater und die Mutter am Fuß des Bettes. Die Tochter war fortgebracht worden. Der kleine Junge war in der Phase der Mattigkeit und ließ sich klaglos untersuchen. Als der Arzt den Kopf hob, begegnete er dem Blick des Richters und hinter ihm dem blassen Gesicht der Mutter, die sich ein Taschentuch vor den Mund hielt und die Bewegungen des Arztes mit weitgeöffneten Augen verfolgte.
«Das ist es, nicht wahr?», sagte der Richter kalt.
«Ja», antwortete Rieux und sah wieder das Kind an.
Die Augen der Mutter wurden noch größer, aber sie redete noch immer nicht. Der Richter schwieg auch, dann sagte er leiser:
«Also, Herr Doktor, wir müssen tun, was vorgeschrieben ist.»
Rieux vermied es, die Mutter anzusehen, die sich noch immer das Taschentuch vor den Mund hielt.
«Das ist schnell getan», sagte er zögernd, «wenn ich telefonieren darf.»
Monsieur Othon sagte, er werde ihn hinführen. Aber der Arzt drehte sich zu der Frau um.
«Es tut mir furchtbar leid. Sie sollten ein paar Sachen bereitlegen. Sie wissen ja, was.»
Madame Othon schien wie vor den Kopf geschlagen. Sie sah zu Boden.
«Ja», sagte sie und nickte, «das werde ich tun.»
Bevor Rieux ging, fragte er sie noch, ob sie etwas brauchten. Die Frau sah ihn immer noch schweigend an. Aber der Richter wandte diesmal die Augen ab.
«Nein», sagte er, dann schluckte er, «aber retten Sie mein Kind.»
Die Quarantäne, die anfangs eine bloße Formalität war, war dann von Rieux und Rambert sehr streng organisiert worden. Vor allem hatten sie verlangt, dass die einzelnen Mitglieder einer Familie immer voneinander abgesondert wurden. Falls ein Familienmitglied, ohne es zu wissen, angesteckt worden war, sollten der Krankheit keine größeren Chancen eingeräumt werden. Diese Gründe erklärte Rieux dem Richter, der sie gut fand. Doch seine Frau und er sahen sich auf eine Weise an, dass der Arzt spürte, wie sehr diese Trennung sie aus der Fassung brachte. Madame Othon und ihre kleine Tochter konnten in dem von Rambert geleiteten Quarantänehotel untergebracht werden. Aber für den Untersuchungsrichter war kein Platz mehr, außer im Isolierlager, das die Präfektur gerade auf dem städtischen Sportplatz mit Zelten vom Straßenbauamt einrichtete. Rieux entschuldigte sich, aber Monsieur Othon sagte, die Regel gelte für alle, und es sei nur recht und billig, ihr zu gehorchen.
Das Kind wurde in das Behelfskrankenhaus, in einen ehemaligen Klassenraum, gebracht, in dem zehn Betten aufgestellt worden waren. Nach ungefähr zwanzig Stunden hielt Rieux den Fall für hoffnungslos. Der kleine Körper ließ sich ohne zu reagieren von der Infektion zerfressen. Ganz kleine, schmerzhafte, aber kaum ausgebildete Beulen blockierten die Gelenke seiner schmächtigen Gliedmaßen. Er war im Voraus besiegt. Deshalb kam Rieux auf die Idee, Castels Serum an ihm auszuprobieren. Am selben Abend, nach dem Essen, nahmen sie die langwierige Impfung vor, ohne eine einzige Reaktion von Seiten des Kindes hervorzurufen. Im Morgengrauen des nächsten Tages fanden sich alle bei dem kleinen Jungen ein, um dieses entscheidende Experiment zu beurteilen.
Das Kind war aus seiner Apathie erwacht und wälzte sich unter Krämpfen im Bett. Der Arzt, Castel und Tarrou waren seit vier Uhr morgens bei ihm und verfolgten Schritt für Schritt das Fortschreiten oder Innehalten der Krankheit. Am Kopfende des Bettes stand Tarrou, den massigen Körper etwas vorgebeugt. Am Fußende, neben dem
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