Die Pest (German Edition)
ab, der ihm schon in die Augen rann. Er hätte am liebsten weitergeschrien, um endlich den gewaltigen Knoten zu lösen, der ihm das Herz zerdrückte. Die Hitze fiel langsam durch die Äste der Feigenbäume. Der blaue Morgenhimmel überzog sich schnell mit einer weißlichen Schicht, die die Luft stickiger machte. Rieux ließ sich auf seiner Bank zusammensinken. Er betrachtete die Äste, den Himmel, kam langsam wieder zu Atem und überwand allmählich seine Müdigkeit.
«Warum haben Sie so zornig mit mir gesprochen?», sagte eine Stimme hinter ihm. «Auch für mich war dieser Anblick unerträglich.»
Rieux drehte sich zu Paneloux um:
«Das ist wahr», sagte er. «Verzeihen Sie mir. Aber die Müdigkeit macht einen wahnsinnig. Und es gibt Stunden in dieser Stadt, in denen ich nur noch meine Empörung fühle.»
«Ich verstehe», murmelte Paneloux. «Es ist empörend, weil es über unser Maß geht. Aber vielleicht müssen wir lieben, was wir nicht verstehen können.»
Rieux richtete sich mit einem Ruck auf. Er sah Paneloux mit aller Kraft und Leidenschaft an, deren er fähig war, und schüttelte den Kopf.
«Nein, Pater», sagte er. «Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.»
Über Paneloux’ Gesicht huschte ein bestürzter Schatten.
«Ach, Herr Doktor», sagte er traurig, «ich habe eben verstanden, was Gnade heißt.»
Aber Rieux war wieder auf seiner Bank zusammengesunken. Aus der Tiefe seiner zurückgekehrten Müdigkeit antwortete er sanfter:
«Die habe ich nicht, ich weiß. Aber ich will mit Ihnen nicht darüber diskutieren. Wir arbeiten zusammen, aber für etwas, was uns jenseits von Gotteslästerung und Gebet vereint. Nur das ist wichtig.»
Paneloux setzte sich neben Rieux. Er wirkte bewegt.
«Ja, ja, auch Sie arbeiten für das Heil des Menschen.»
Rieux versuchte zu lächeln.
«Das Heil des Menschen ist ein zu großes Wort für mich. Ich gehe nicht so weit. Mich interessiert seine Gesundheit, in erster Linie seine Gesundheit.»
Paneloux zögerte.
«Herr Doktor», sagte er.
Aber er hielt inne. Auch auf seiner Stirn begann der Schweiß zu rinnen. Er murmelte: «Auf Wiedersehen», und seine Augen glänzten, als er sich erhob. Er wollte gehen, als Rieux, der nachdachte, ebenfalls aufstand und einen Schritt auf ihn zuging.
«Verzeihen Sie mir noch einmal», sagte er. «So ein Ausbruch wird nicht wieder vorkommen.»
Paneloux streckte ihm die Hand hin und sagte traurig:
«Und doch habe ich Sie nicht überzeugt!»
«Was macht das schon?», sagte Rieux. «Was ich hasse, sind der Tod und das Böse, das wissen Sie ja. Und ob Sie wollen oder nicht, wir sind zusammen da, um sie zu erleiden und zu bekämpfen.»
Rieux hielt Paneloux’ Hand fest.
«Sehen Sie», sagte er und vermied es, ihn anzusehen, «jetzt kann Gott selbst uns nicht trennen.»
Seit Paneloux den Sanitätstrupps beigetreten war, hatte er die Krankenhäuser und die Orte, wo die Pest herrschte, nicht verlassen. Er hatte unter den Rettern den Rang eingenommen, der ihm, wie ihm schien, zustand, nämlich den ersten. An Anblicken des Todes hatte es ihm nicht gefehlt. Und obwohl er grundsätzlich durch das Serum geschützt war, war ihm auch die Sorge um seinen eigenen Tod nicht fremd geblieben. Nach außen hatte er immer die Ruhe bewahrt. Aber seit dem Tag, an dem er ein Kind lange hatte sterben sehen, schien er verändert. Auf seinem Gesicht lag eine wachsende Anspannung. Und an dem Tag, als er lächelnd zu Rieux sagte, er bereite gerade ein kurzes Traktat vor zu dem Thema: «Darf ein Priester einen Arzt konsultieren?», hatte der Arzt den Eindruck, es handle sich um etwas Ernsteres, als Paneloux zu sagen schien. Als der Arzt den Wunsch äußerte, diese Arbeit kennenzulernen, teilte Paneloux ihm mit, dass er in der Messe für Männer eine Predigt halten müsse, und bei dieser Gelegenheit würde er zumindest einige seiner Ansichten darlegen.
«Ich möchte, dass Sie kommen, Herr Doktor, das Thema wird Sie interessieren.»
Der Pater hielt seine zweite Predigt an einem sehr windigen Tag. Offen gestanden waren die Reihen spärlicher besetzt als bei der ersten Predigt. Diese Art von Veranstaltung hatte für unsere Mitbürger nämlich nicht mehr den Reiz der Neuheit. Unter den schwierigen Bedingungen, die die Stadt mitmachte, hatte sogar das Wort «Neuheit» seinen Sinn verloren. Außerdem hatten die meisten Leute, wenn sie ihre
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