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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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stehenden Rieux, saß Castel und las mit allen Anzeichen der Ruhe in einem alten Werk. Als sich allmählich das Tageslicht in dem ehemaligen Klassenraum ausbreitete, kamen nach und nach die anderen. Zuerst Paneloux, der sich Tarrou gegenüber auf der anderen Seite des Bettes an die Wand lehnte. Auf seinem Gesicht lag ein schmerzlicher Ausdruck, und die Müdigkeit all dieser Tage, in denen er sich eingesetzt hatte, hatte Falten in seine hochrote Stirn gegraben. Dann kam Joseph Grand. Es war sieben Uhr, und der Angestellte entschuldigte sich, dass er außer Atem war. Er wolle nur einen Augenblick bleiben, vielleicht wisse man schon etwas Genaueres. Rieux deutete wortlos auf das Kind, das mit geschlossenen Augen in einem verzerrten Gesicht, mit bis zum Äußersten zusammengebissenen Zähnen und bewegungslosem Körper den Kopf von rechts nach links auf dem nicht bezogenen Kopfpolster hin- und herdrehte. Als es schließlich hell genug war, hinten im Raum auf der an Ort und Stelle gebliebenen Wandtafel die Reste alter Gleichungen erkennen zu können, kam Rambert. Er lehnte sich an das Fußende des Nachbarbettes und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Aber nach einem Blick auf das Kind steckte er das Päckchen wieder in die Tasche.
    Immer noch sitzend, sah Castel Rieux über seine Brille hinweg an.
    «Haben Sie etwas von dem Vater gehört?»
    «Nein», sagte Rieux, «er ist im Isolierlager.»
    Der Arzt umklammerte die Querstange des Bettes, in dem das Kind stöhnte. Er ließ den kleinen Kranken nicht aus den Augen, der plötzlich steif wurde und sich, mit wieder zusammengebissenen Zähnen, ein wenig in der Taille krümmte und langsam die Arme und die Beine spreizte. Von dem kleinen Körper, der nackt unter der Militärdecke lag, stieg ein Geruch nach Wolle und säuerlichem Schweiß auf. Das Kind entspannte sich nach und nach, zog Arme und Beine zur Mitte des Bettes hin ein und schien, noch immer blind und stumm, schneller zu atmen. Rieux begegnete Tarrous Blick und wandte die Augen ab.
    Sie hatten schon Kinder sterben sehen, denn der Schrecken schlug seit Monaten wahllos zu, aber noch nie hatten sie deren Leiden Minute für Minute verfolgt, wie sie es seit dem Morgen taten. Und natürlich hatte der Schmerz, den diese Unschuldigen erdulden mussten, nie aufgehört, ihnen als das zu erscheinen, was er in der Tat war, nämlich ein Skandal. Aber bisher zumindest empörten sie sich gewissermaßen abstrakt, weil sie der Agonie eines Unschuldigen nie so lange unmittelbar zugesehen hatten.
    Gerade jetzt krümmte sich das Kind mit einem hellen Stöhnen wieder zusammen, als wäre es in den Magen gebissen worden. Es blieb viele Sekunden lang so zusammengezogen liegen und wurde von Schauern und krampfhaftem Zittern geschüttelt, als beuge sich sein zartes Knochengerüst unter dem wütenden Wind der Pest und zerbreche unter dem wiederholten Ansturm des Fiebers. Wenn der Sturm vorbei war, entspannte es sich etwas, das Fieber schien sich zurückzuziehen und es keuchend auf einem feuchten, vergifteten Strand liegen zu lassen, wo das Ausruhen schon dem Tod glich. Als die glühende Flut das Kind zum dritten Mal erreichte und es ein wenig hochhob, rollte es sich zusammen, wich voll Entsetzen vor der Flamme, die es verbrannte, ganz tief ins Bett zurück, schüttelte wie irrsinnig den Kopf und warf die Decke zurück. Dicke Tränen schossen unter den entzündeten Lidern hervor und rollten über das bleigraue Gesicht; am Ende der Krise nahm das erschöpfte Kind mit seinen verkrampften knochigen Beinen und seinen Armen, deren Fleisch in achtundvierzig Stunden dahingeschmolzen war, in dem zerwühlten Bett die groteske Haltung eines Gekreuzigten ein.
    Tarrou beugte sich hinunter und wischte mit seiner schweren Hand das von Tränen und Schweiß nasse Gesicht ab. Seit einer Weile hatte Castel sein Buch zugeklappt und betrachtete den Kranken. Er fing einen Satz an, musste aber husten, um ihn beenden zu können, weil seine Stimme plötzlich entgleiste.
    «Es hat kein morgendliches Abklingen gegeben, nicht wahr, Rieux?»
    Rieux sagte nein, aber das Kind halte länger durch als normal. Paneloux, der ein wenig an der Wand zusammengesunken zu sein schien, sagte darauf dumpf:
    «Wenn es sterben muss, wird es länger gelitten haben.»
    Rieux drehte sich abrupt zu ihm um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schwieg aber, strengte sich sichtlich an, um sich zu beherrschen, und sah wieder zu dem Kind hin.
    Das Licht im Raum wurde heller. In den fünf

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