Die Pest (German Edition)
Gewinn bestand und wie man ihn finden konnte.
In diesem Augenblick schienen es sich die Leute rings um Rieux zwischen den Armlehnen ihrer Bank gemütlich zu machen und sich so bequem wie möglich zurechtzusetzen. Eine der gepolsterten Eingangstüren schlug leise. Jemand machte sich die Mühe, sie zu fest zu schließen. Durch diese Unruhe abgelenkt, konnte Rieux Paneloux kaum hören, der in seiner Predigt fortfuhr. Er sagte etwa, dass man nicht versuchen dürfe, sich das Schauspiel der Pest zu erklären, sondern danach trachten müsse, aus ihr zu lernen, was aus ihr zu lernen sei. Rieux verstand vage, dass es dem Pater zufolge nichts zu erklären gab. Sein Interesse wurde konzentrierter, als Paneloux nachdrücklich sagte, es gebe Dinge, die man im Angesicht Gottes erklären könne, und andere, die man nicht erklären könne. Zwar gebe es Gut und Böse, und im Allgemeinen könne man sich leicht erklären, was sie trennt. Doch die Schwierigkeit beginne innerhalb des Bösen. Es gebe zum Beispiel das scheinbar notwendige Böse und das scheinbar unnötige Böse. Es gebe den in die Hölle gestoßenen Don Juan und den Tod eines Kindes. Denn während es gerecht sei, dass der Lebemann vernichtet wird, verstehe man das Leiden des Kindes nicht. Und eigentlich gebe es auf Erden nichts Wichtigeres als das Leiden eines Kindes und das Grauen, das dieses Leiden mit sich bringt, und die Gründe, die man dafür finden muss. Im sonstigen Leben erleichtere Gott uns alles, und bis dahin sei die Religion ohne Verdienste. Hier dagegen treibe er uns in die Enge. So ständen wir zwischen den Mauern der Pest und müssten in ihrem todbringenden Schatten unseren Gewinn finden. Pater Paneloux schlug sogar die Erleichterung bringenden Vorteile aus, die ihm ermöglicht hätten, die Mauer zu erklimmen. Es wäre für ihn ein Leichtes gewesen zu sagen, die Wonnen der Ewigkeit, die auf das Kind warteten, könnten sein Leiden ausgleichen, aber in Wahrheit wusste er nichts darüber. Wer konnte denn behaupten, dass eine ewige Wonne einen Augenblick menschlichen Schmerzes ausgleichen kann? Ganz sicher kein Christ, deren Meister den Schmerz in seinen Gliedern und in seiner Seele empfunden hat. Nein, der Pater würde am Fuße der Mauer stehen bleiben, jener Zerrissenheit getreu, deren Symbol das Kreuz ist, Auge in Auge mit dem Leiden eines Kindes. Und er würde denen, die ihm an diesem Tag zuhörten, furchtlos sagen: «Liebe Brüder, der Augenblick ist da. Man muss alles glauben oder alles leugnen. Und wer unter euch würde es wagen, alles zu leugnen?»
Rieux hatte kaum Zeit zu denken, dass die Worte des Paters an Ketzerei grenzten, als dieser schon mit Nachdruck fortfuhr und behauptete, diese Aufforderung, nichts als dieser Anspruch sei der Gewinn des Christen. Er sei auch seine Tugend. Der Pater wusste, dass das Maßlose an der Tugend, von der er sprechen wollte, viele Geister schockieren würde, die eine nachsichtigere und klassischere Moral gewohnt waren. Aber die Religion der Pestzeit konnte nicht die Religion aller Tage sein, und wenn Gott zulassen und sogar wünschen konnte, dass die Seele sich in Zeiten des Glücks ausruhe und erfreue, so wollte er sie maßlos im äußersten Unglück. Gott erwies seinen Geschöpfen heute die Gnade, sie in ein solches Unglück zu versetzen, dass sie die größte Tugend wiederfinden und auf sich nehmen mussten, nämlich die des Alles-oder-Nichts.
Ein weltlicher Autor hatte im vorigen Jahrhundert das Geheimnis der Kirche lüften wollen, indem er behauptete, es gebe kein Fegefeuer. Damit deutete er an, dass es keine halben Maßnahmen gab, nur das Paradies und die Hölle, und dass man, je nachdem, was man gewählt hatte, nur errettet oder verdammt werden könne. Wenn man Paneloux glauben wollte, war das eine Ketzerei, wie sie nur in der Seele eines Freigeists aufkommen konnte. Denn es gab ein Fegefeuer. Aber es gab zweifellos Zeiten, in denen man nicht allzu sehr auf dieses Fegefeuer hoffen durfte, Zeiten, in denen man nicht von lässlichen Sünden sprechen konnte. Jede Sünde war eine Todsünde und jede Gleichgültigkeit verbrecherisch. Es ging um alles oder nichts.
Paneloux hielt inne, und Rieux hörte nun deutlicher das Pfeifen des Windes unter den Türen, der draußen stärker zu werden schien. Im gleichen Augenblick sagte der Pater, dass die Tugend der völligen Annahme, von der er sprach, nicht in dem eingeschränkten Sinn verstanden werden könne, den man ihr sonst gab, dass es sich weder um die alltägliche
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