Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
Vom Netzwerk:
religiösen Pflichten nicht ganz vernachlässigt hatten oder wenn sie sie nicht mit einem zutiefst unmoralischen Privatleben einhergehen ließen, die üblichen Glaubensübungen durch einen wenig vernünftigen Aberglauben ersetzt. Sie trugen lieber Medaillons oder Amulette des heiligen Rochus, als dass sie zur Messe gingen.
    Als Beispiel dafür kann man den maßlosen Gebrauch anführen, den unsere Mitbürger von Prophezeiungen machten. Im Frühjahr hatte man nämlich das Ende der Krankheit von einem Augenblick auf den anderen erwartet, und niemand kam auf den Gedanken, andere nach genaueren Einzelheiten über die Dauer der Epidemie zu fragen, da ja jeder sich einredete, sie werde keine haben. Aber mit dem Vergehen der Tage begann man zu fürchten, das Unheil werde wirklich kein Ende haben, und damit wurde das Aufhören der Epidemie zum Gegenstand aller Hoffnungen. So reichte man sich unter der Hand verschiedene Prophezeiungen von Magiern und Heiligen der katholischen Kirche weiter. Drucker der Stadt begriffen sehr schnell, welchen Vorteil sie aus dieser Versessenheit schlagen konnten, und verbreiteten zahlreiche Exemplare der in Umlauf befindlichen Texte. Als sie merkten, dass der Wissensdurst der Leser unersättlich war, ließen sie in den städtischen Bibliotheken nach allen derartigen Zeugnissen forschen, die die Populärgeschichte liefern konnte, und verbreiteten sie in der Stadt. Als es in der Geschichte als solcher knapp an Prophezeiungen wurde, bestellte man welche bei Journalisten, die sich, zumindest in diesem Punkt, als ebenso kompetent erwiesen wie ihre Vorbilder in den vergangenen Jahrhunderten.
    Manche dieser Prophezeiungen erschienen sogar als Fortsetzungen in der Zeitung und wurden nicht weniger begierig gelesen als die Liebesschnulzen, die man in Zeiten der Gesundheit dort finden konnte. Einige dieser Voraussagen stützten sich auf wunderliche Berechnungen, in die die Jahreszahl, die Anzahl der Toten und die der schon unter der Herrschaft der Pest verbrachten Monate eingingen. Andere stellten Vergleiche mit den großen Pestseuchen der Geschichte an, arbeiteten die Ähnlichkeiten heraus (in den Prophezeiungen als Konstanten bezeichnet) und behaupteten anhand nicht weniger wunderlicher Berechnungen, daraus Lehren für die gegenwärtige Prüfung zu ziehen. Aber am meisten schätzten die Leser unbestritten jene, die in apokalyptischer Sprache Serien von Ereignissen ankündigten, von denen jede die sein konnte, die die Stadt durchmachte und deren Komplexität alle Auslegungen zuließ. So wurden Nostradamus und die heilige Ottilie täglich zu Rate gezogen, und immer mit Gewinn. Allen Prophezeiungen war übrigens gemeinsam, dass sie letzten Endes beruhigend waren. Nur die Pest war es nicht.
    Dieser Aberglaube ersetzte unseren Mitbürgern also die Religion, und deswegen fand Paneloux’ Predigt in einer nur zu drei Vierteln besetzten Kirche statt. Als Rieux am Abend der Predigt eintraf, blies der Wind, der in Luftzügen durch die auf- und zuschlagenden Türen hereindrang, ungehindert zwischen den Zuhörern hindurch. Und so war es eine kalte, stille Kirche, in der er inmitten einer ausschließlich aus Männern bestehenden Zuhörerschaft Platz nahm und den Pater die Kanzel besteigen sah. Dieser sprach sanfter und überlegter als beim ersten Mal, und mehrfach fiel den Zuhörern ein gewisses Zögern in seinem Redefluss auf. Merkwürdig war auch, dass er nicht mehr «ihr», sondern «wir» sagte.
    Allmählich jedoch wurde seine Stimme fester. Zu Beginn erinnerte er daran, dass die Pest seit vielen Monaten unter uns war und dass wir sie jetzt, da wir sie besser kannten, weil wir so viele Male gesehen haben, wie sie sich an unserem Tisch oder am Bett derer niederließ, die wir liebten, wie sie neben uns herging und am Arbeitsplatz auf unser Kommen wartete, dass wir jetzt also vielleicht besser aufnehmen könnten, was sie uns unablässig sagte, und dass wir in der ersten Überraschung womöglich nicht richtig hingehört hätten. Was Pater Paneloux schon an der gleichen Stelle gepredigt hatte, blieb wahr – oder zumindest war das seine Überzeugung. Aber wiederum vielleicht hatte er, wie es uns allen widerfuhr, und er schlug sich an die eigene Brust, es ohne Nächstenliebe gedacht und gesagt. Wahr blieb jedoch, dass es bei allen Dingen immer etwas zu behalten gab. Die grausamste Prüfung war für den Christen noch ein Gewinn. Und was der Christ im vorliegenden Fall suchen musste, war eben sein Gewinn, und worin der

Weitere Kostenlose Bücher