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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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ihr den Kopf zu. Nach den Worten seiner Wirtin sah er aus, als wäre er die ganze Nacht geschlagen worden und hätte jede Kraft verloren, noch zu reagieren. Sie fragte ihn, wie es ihm gehe. Und mit einer Stimme, deren seltsam gleichgültigen Ton sie bemerkte, sagte er, es gehe ihm schlecht, er brauche keinen Arzt, es genüge, ihn ins Krankenhaus zu bringen, damit alles vorschriftsmäßig sei. Entsetzt lief die alte Dame zum Telefon.
    Rieux kam mittags. Auf den Bericht der Wirtin antwortete er nur, Paneloux habe recht, es sei wohl zu spät. Der Pater empfing ihn mit der gleichen gleichgültigen Miene. Rieux untersuchte ihn und war überrascht, dass er keines der Hauptsymptome der Beulen- oder der Lungenpest entdeckte, außer den Stauungen in der Lunge und Atemnot. Jedenfalls war der Puls so schwach und der Allgemeinzustand so alarmierend, dass es wenig Hoffnung gab.
    «Sie haben keins der Hauptsymptome der Krankheit», sagte er zu Paneloux. «Aber tatsächlich besteht ein Verdacht, und ich muss Sie isolieren.»
    Der Pater lächelte sonderbar, gleichsam aus Höflichkeit, blieb aber stumm. Rieux ging hinaus, um zu telefonieren, und kam zurück. Er sah den Pater an.
    «Ich bleibe bei Ihnen», sagte er sanft.
    Der andere schien sich zu beleben und wandte dem Arzt einen Blick zu, in den so etwas wie Wärme zurückzukehren schien. Dann brachte er so mühsam hervor, dass man unmöglich wissen konnte, ob er es traurig sagte oder nicht:
    «Danke. Aber Ordensbrüder haben keine Freunde. Sie haben alles in Gott gesetzt.»
    Er bat um das Kruzifix, das über dem Kopfende hing, und als er es hatte, wandte er sich ab, um es anzusehen.
    Im Krankenhaus machte Paneloux den Mund nicht auf. Er überließ sich wie ein Ding allen Behandlungen, denen man ihn unterzog, aber das Kruzifix ließ er nicht mehr los. Doch der Fall des Paters blieb weiter zweideutig. In Rieux’ Kopf blieb der Zweifel bestehen. Es war die Pest, und es war sie nicht. Seit einiger Zeit schien es ihr Spaß zu machen, die Diagnostik durcheinanderzubringen. Aber in Paneloux’ Fall sollte die Folge erweisen, dass diese Unsicherheit ohne Bedeutung war.
    Das Fieber stieg. Der Husten wurde immer rasselnder und quälte den Kranken den ganzen Tag. Am Abend endlich spie der Pater jene Watte aus, die ihn erstickte. Sie war rot. Mitten im tobenden Fieber behielt Paneloux seinen gleichgültigen Blick, und als man ihn am nächsten Morgen, halb aus dem Bett hängend, tot auffand, drückte sein Blick nichts aus. Auf seine Karteikarte wurde geschrieben: «Zweifelhafter Fall.»
     
     
    Allerheiligen war in jenem Jahr nicht wie sonst. Das Wetter war allerdings entsprechend. Es war plötzlich umgeschlagen, und die späte Hitze war auf einmal einer kühlen Witterung gewichen. Wie in den anderen Jahren wehte jetzt beständig ein kalter Wind. Dicke Wolken rasten von einem Horizont zum anderen und legten Schatten auf die Häuser, auf die nach ihrem Vorüberziehen wieder das kalte, goldene Licht des Novemberhimmels schien. Die ersten Regenmäntel waren aufgetaucht. Aber die überraschend große Zahl von glänzenden Gummistoffen fiel auf. Die Zeitungen hatten nämlich berichtet, dass vor zweihundert Jahren, während der großen Pest in Südfrankreich, die Ärzte zu ihrem eigenen Schutz Öltuch trugen. Die Geschäfte hatten daraus Nutzen geschlagen, um ihr Lager aus der Mode gekommener Kleidungsstücke abzustoßen, von denen sich jeder erhoffte, immun zu bleiben.
    Aber trotz all dieser jahreszeitlichen Merkmale konnte nicht übersehen werden, dass die Friedhöfe verlassen waren. In den anderen Jahren war die Straßenbahn von dem faden Geruch der Chrysanthemen und langen Reihen von Frauen erfüllt, die sich an den Ort begaben, wo ihre Verwandten beerdigt waren, um deren Gräber mit Blumen zu schmücken. Es war der Tag, an dem versucht wurde, den Verstorbenen für die Einsamkeit und das Vergessen zu entschädigen, in die er monatelang geraten war. Aber in jenem Jahr wollte niemand mehr an die Toten denken. Man dachte ja schon zu viel an sie. Und es ging nicht mehr darum, sie mit etwas Kummer und viel Wehmut aufzusuchen. Sie waren nicht mehr die Vernachlässigten, zu denen man an einem Tag im Jahr kommt, um sich zu rechtfertigen. Sie waren die Störenfriede, die man vergessen will. Deshalb wurde in jenem Jahr der Totensonntag gewissermaßen übergangen. Laut Cottard, dem Tarrou eine immer ironischere Sprache zuschrieb, war jeden Tag Totensonntag.
    Und wirklich brannten im Krematorium die

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