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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Ergebenheit noch um die schwierige Demut handle. Es handle sich um Demütigung, aber um eine Demütigung, in die der Gedemütigte einwilligte. Gewiss, das Leiden eines Kindes sei demütigend für den Geist und das Herz. Aber ebendeshalb müsse man sich darauf einlassen. Aber ebendeshalb – und Paneloux versicherte seinen Zuhörern, dass das, was er sagen werde, nicht leicht zu sagen sei – müsse man es wollen, weil Gott es wolle. Nur so würde der Christ nichts scheuen und, wenn alle Auswege versperrt waren, bis auf den Grund der unerlässlichen Wahl gehen. Er würde wählen, alles zu glauben, um nicht gezwungen zu sein, alles zu leugnen. Und so wie die braven Frauen in diesem Augenblick in den Kirchen sagten: «Lieber Gott, gib ihm Beulen», weil sie erfahren hatten, dass die sich bildenden Beulen der natürliche Weg waren, über den der Körper seine Infektion ausschied, so würde sich der Christ dem göttlichen Willen überlassen, auch wenn er unverständlich war. Man könne nicht sagen: «Das verstehe ich; aber jenes ist unannehmbar», man müsse mitten in dieses Unannehmbare hineinspringen, das uns dargeboten wurde, eben damit wir unsere Wahl träfen. Das Leiden der Kinder sei unser bitteres Brot, aber ohne dieses Brot würde unsere Seele an ihrem geistigen Hunger zugrunde gehen.
    Hier begann die gedämpfte Unruhe hörbar zu werden, die im Allgemeinen Pater Paneloux’ Pausen begleitete, als der Prediger unvermutet mit Nachdruck fortfuhr und so tat, als frage er anstelle seiner Zuhörer, wie man sich denn nun verhalten solle. Er ahne wohl, dass man das erschreckende Wort Fatalismus aussprechen werde. Nun, er schrecke nicht vor dem Ausdruck zurück, wenn man ihm nur erlaubte, das Adjektiv «tätig» hinzuzufügen. Gewiss, und nochmals, dürfe man die Christen in Abessinien nicht nachahmen, von denen er gesprochen habe. Man dürfe nicht einmal daran denken, es jenen persischen Pestkranken gleichzutun, die ihre Sachen über die christlichen Sanitätsposten warfen und dabei laut den Himmel anriefen, er möge diesen Ungläubigen die Pest bringen, die das von Gott gesandte Übel bekämpfen wollten. Umgekehrt aber dürfe man auch nicht die Mönche von Kairo nachahmen, die während der Epidemien des vergangenen Jahrhunderts bei der Kommunion die Hostie mit der Pinzette hielten, um den Kontakt mit den feuchten, warmen Mündern zu vermeiden, in denen die Ansteckung schlummern konnte. Die persischen Pestkranken und die Mönche sündigten gleichermaßen. Denn bei den einen zähle das Leiden eines Kindes nicht, während bei den anderen die sehr menschliche Furcht vor Schmerz alles durchdrungen habe. In beiden Fällen werde das Problem umgangen. Alle blieben für Gottes Stimme taub. Aber es gab andere Beispiele, an die Paneloux erinnern wollte. Wenn man dem Chronisten der großen Pest von Marseille glauben konnte, überlebten von den einundachtzig Mönchen des Klosters de la Mercy nur vier das Fieber. Und von diesen vier flohen drei. So sprachen die Chronisten, es war nicht ihre Aufgabe, mehr dazu zu sagen. Aber als Pater Paneloux dies las, richtete sich sein ganzes Denken auf den, der allein geblieben war, trotz siebenundsiebzig Leichen und vor allem trotz des Beispiels seiner drei Brüder. Und der Pater schlug mit der Faust auf den Rand der Kanzel und rief: «Liebe Brüder, jeder muss der sein, der bleibt!»
    Es gehe nicht darum, die Vorsichtsmaßnahmen und die kluge Ordnung abzulehnen, die eine Gesellschaft in die Unordnung einer Heimsuchung brachte. Man dürfe nicht auf jene Moralprediger hören, die sagten, man solle niederknien und alles aufgeben. Man müsse sich nur aufmachen und in der Finsternis ein wenig blindlings vorwärts gehen und versuchen, Gutes zu tun. Ansonsten aber solle man bleiben und sich bereitwillig Gott anvertrauen, sogar beim Tod der Kinder, ohne persönliche Hilfe zu suchen.
    Hier beschwor Pater Paneloux die hehre Gestalt des Bischofs Belzunce während der Pest von Marseille. Er erinnerte daran, dass der Bischof gegen Ende der Pest, als er alles getan hatte, was er tun musste, und glaubte, es gebe keine Abhilfe mehr, sich mit Lebensmitteln in sein Haus einschloss, das er einmauern ließ; dass die Einwohner, deren Abgott er war, in einer Umkehrung der Gefühle, wie sie im Übermaß der Schmerzen vorkommt, sich gegen ihn erzürnten, sein Haus mit Leichen umringten, um ihn anzustecken, und sogar Leichen über die Mauern warfen, damit er noch sicherer sein Leben verlöre. So hatte der Bischof in

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