Die Pest (German Edition)
einer letzten Schwäche geglaubt, sich in der Welt des Todes absondern zu können, und die Toten fielen ihm vom Himmel auf den Kopf. So war es auch mit uns, die wir uns überzeugen mussten, dass es in der Pest keine Insel gibt. Nein, es gab keine Mitte. Wir mussten den Skandal ertragen, weil wir wählen mussten, ob wir Gott hassen oder ihn lieben. Und wer würde es wagen, den Hass auf Gott zu wählen?
«Liebe Brüder», sagte Paneloux schließlich und kündete an, dass er zum Schluss komme, «die Liebe zu Gott ist eine schwierige Liebe. Sie setzt die völlige Selbstaufgabe und die Missachtung der eigenen Person voraus. Aber sie allein kann das Leiden und den Tod der Kinder wiedergutmachen, sie allein kann sie jedenfalls notwendig machen, weil man sie unmöglich verstehen kann und weil man sie nicht wollen kann. Dies ist die schwierige Lehre, die ich mit euch teilen wollte. Dies ist der in den Augen der Menschen grausame, in den Augen Gottes entscheidende Glaube, dem wir uns nähern müssen. Diesem schrecklichen Bild müssen wir uns angleichen. Auf diesem höchsten Punkt wird alles verwischt und gleichgemacht, wird die Wahrheit aus der scheinbaren Ungerechtigkeit hervorgehen. So ruhen in vielen Kirchen Südfrankreichs an der Pest Gestorbene seit Jahrhunderten unter den Fliesen des Chors, und Priester sprechen über ihren Gräbern, und der Geist, den sie verbreiten, bricht aus dieser Asche hervor, zu der doch Kinder ihr Teil beigetragen haben.»
Als Rieux hinausging, verfing sich ein stürmischer Wind in der halboffenen Tür und blies den Gläubigen mitten ins Gesicht. Er trug einen Geruch nach Regen, einen Duft nach feuchtem Trottoir in die Kirche, woran sie das Aussehen der Stadt erraten konnten, ehe sie draußen waren. Ein alter Priester und ein junger Diakon, die vor Doktor Rieux gerade hinausgingen, hatten Mühe, ihre Kopfbedeckung festzuhalten. Der Ältere ließ sich dadurch aber nicht in seinem Kommentar der Predigt unterbrechen. Er würdigte Paneloux’ Eloquenz, sorgte sich aber wegen der Kühnheiten, die der Pater in seinem Denken gezeigt hatte. Er meinte, diese Predigt zeige mehr Beunruhigung als Kraft, und in Paneloux’ Alter habe ein Priester nicht mehr das Recht, beunruhigt zu sein. Mit gesenktem Kopf, um sich vor dem Wind zu schützen, versicherte der junge Diakon, er verkehre viel mit dem Pater, er sei über dessen Entwicklung auf dem Laufenden, und sein Traktat sei noch viel kühner und bekäme wahrscheinlich nicht das Imprimatur.
«Welche Vorstellung hat er denn?», sagte der alte Priester.
Sie waren auf dem Vorplatz angekommen, und der Wind pfiff um sie herum und schnitt dem Jüngeren das Wort ab. Als er sprechen konnte, sagte er nur:
«Wenn ein Priester einen Arzt zu Rate zieht, ist das ein Widerspruch.»
Als Rieux Tarrou die Rede Paneloux’ wiedergab, sagte der, er kenne einen Priester, der im Krieg den Glauben verloren hatte, als er das Gesicht eines jungen Mannes mit ausgestochenen Augen erblickt hatte.
«Paneloux hat recht», sagte Tarrou. «Wenn der Unschuld die Augen ausgestochen werden, muss ein Christ den Glauben verlieren oder sich darein fügen, dass ihm selbst die Augen ausgestochen werden. Paneloux will den Glauben nicht verlieren, er wird bis zum Äußersten gehen. Das hat er sagen wollen.»
Kann diese Bemerkung Tarrous eine Erklärung für die unglücklichen Ereignisse liefern, die folgten und in denen Paneloux’ Verhalten seiner Umgebung unverständlich erschien? Darüber wird zu befinden sein.
Einige Tage nach der Predigt war Paneloux nämlich damit beschäftigt umzuziehen. Es war zu der Zeit, als der Verlauf der Krankheit ständige Umzüge in der Stadt verursachte. Und wie Tarrou sein Hotel hatte verlassen müssen und sich bei Rieux einquartiert hatte, so musste der Pater die Wohnung aufgeben, in der sein Orden ihn untergebracht hatte, und sich bei einer alten Dame einmieten, die eine eifrige Kirchgängerin und von der Pest noch unbeschadet war. Während des Umzugs hatte der Pater seine Müdigkeit und Beklommenheit wachsen fühlen. Und so verlor er die Achtung seiner Vermieterin. Als sie dem Priester gegenüber nämlich begeistert die Vorzüge der Prophezeiung der heiligen Ottilie rühmte, hatte er eine ganz leichte Ungeduld gezeigt, die wahrscheinlich von seiner Erschöpfung herrührte. Wie sehr er sich danach auch anstrengte, der alten Dame wenigstens eine wohlwollende Neutralität zu entlocken, es gelang ihm nicht. Er hatte einen schlechten Eindruck gemacht. Und
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