Die Pest (German Edition)
sagte Rambert. «Aber je mehr Tage vergingen, umso weniger haben sie geredet.»
Wenn man Tarrous Aufzeichnungen glaubt, dann verstand er sie, und er sah sie am Anfang, wie sie, in ihren Zelten zusammengepfercht, damit beschäftigt waren, den Fliegen zuzuhören oder sich zu kratzen, und wie sie ihre Wut oder ihre Angst herausbrüllten, wenn sie ein bereitwilliges Ohr fanden. Aber von dem Moment an, als das Lager überbelegt war, hatte es immer weniger bereitwillige Ohren gegeben. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als zu schweigen und misstrauisch zu sein. Es gab nämlich eine Art Misstrauen, das vom grauen und doch leuchtenden Himmel auf das rote Lager herabfiel.
Ja, sie sahen alle nach Misstrauen aus. Dass man sie von den anderen getrennt hatte, war nicht ohne Grund geschehen, und sie zeigten das Gesicht derer, die ihre Gründe suchen und sich fürchten. Jeder von denen, die Tarrou ansah, hatte einen ziellosen Blick, alle wirkten so, als litten sie unter einer ganz allgemeinen Trennung von dem, was ihr Leben ausmachte. Und da sie nicht immer an den Tod denken konnten, dachten sie an nichts. Sie waren in Ferien. «Aber das Schlimmste ist», schrieb Tarrou, «dass sie Vergessene sind und dass sie es wissen. Die, die sie kennen, haben sie vergessen, weil sie an anderes denken, und das ist sehr verständlich. Und auch die, die sie lieben, haben sie vergessen, weil sie sich mit Laufereien und Plänen verausgaben, um sie herauszuholen. Vor lauter Denken an das Herausholen denken sie nicht mehr an die, die sie herausholen wollen. Auch das ist normal. Und am Ende merkt man schließlich, dass niemand fähig ist, wirklich an jemanden zu denken, nicht einmal im schlimmsten Unglück. Denn wirklich an jemanden denken heißt, Minute für Minute an ihn denken, ohne sich durch etwas ablenken zu lassen, weder von der Haushaltsarbeit noch von der vorbeischwirrenden Fliege, noch vom Essen, noch von einem Juckreiz. Aber es gibt immer Fliegen und Juckreize. Deshalb ist das Leben schwer zu leben. Und das wissen die hier genau.»
Der Verwalter kam auf sie zu und sagte, ein Monsieur Othon wolle sie sprechen. Er führte Gonzalès in sein Büro, dann brachte er sie zu einer Tribünenecke, wo Monsieur Othon, der sich abseits gesetzt hatte, aufstand, um sie zu begrüßen. Er war immer noch genauso angezogen und trug den gleichen steifen Kragen. Tarrou fiel nur auf, dass seine Haarbüschel an den Schläfen viel struppiger waren und eines seiner Schuhbänder auf war. Der Richter wirkte müde und sah seinen Gesprächspartnern nicht ein einziges Mal ins Gesicht. Er sagte, er freue sich, sie zu sehen, und bat sie, Doktor Rieux für das zu danken, was er getan hatte.
Die anderen schwiegen.
«Ich hoffe, Philippe hat nicht zu sehr gelitten», sagte der Richter nach einer Weile.
Es war das erste Mal, dass Tarrou ihn den Namen seines Sohnes aussprechen hörte, und er begriff, dass etwas anders geworden war. Die Sonne sank am Horizont, und ihre Strahlen schienen durch zwei Wolken seitlich auf die Tribüne und vergoldeten die drei Gesichter.
«Nein», sagte Tarrou, «nein, er hat wirklich nicht gelitten.»
Als sie sich zurückzogen, schaute der Richter immer noch in die Richtung, aus der die Sonne kam.
Sie gingen sich von Gonzalès verabschieden, der eine Tabelle mit den Wachablösungen studierte. Der Fußballspieler drückte ihnen lachend die Hand.
«Wenigstens bin ich wieder in den Umkleideräumen», sagte er, «das ist immerhin etwas.»
Als der Verwalter Tarrou und Rambert hinausbegleitete, ertönte auf den Tribünen ein ohrenbetäubendes Knacken. Dann kam über die Lautsprecher, die in besseren Zeiten die Spielergebnisse bekanntgegeben oder die Mannschaften vorgestellt hatten, die näselnde Aufforderung, die Internierten sollten in ihre Zelte gehen, damit das Abendessen ausgeteilt werden könne. Langsam verließen die Männer die Tribünen und schlurften zu ihren Zelten. Als alle dort waren, fuhren zwei kleine elektrische Wagen, wie man sie auf Bahnhöfen sieht, mit großen Kochkesseln zwischen den Zelten hindurch. Die Männer streckten die Arme aus, zwei Schöpflöffel tauchten in zwei Kessel, kamen heraus und entleerten sich in zwei Kochgeschirre. Der Wagen fuhr weiter. Am nächsten Zelt ging es wieder von vorn los.
«Das hat System», sagte Tarrou zu dem Verwalter.
«Ja, das hat System», sagte dieser voller Genugtuung und drückte ihnen die Hand.
Die Dämmerung war gekommen, und der Himmel hatte sich aufgeklärt. Das Lager
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