Die Pest (German Edition)
Freudenfeuer der Pest immer munterer. Zwar nahm die Zahl der Toten nicht von einem Tag auf den andern zu. Aber es war so, als habe die Pest sich auf ihrem Höhepunkt gemütlich eingerichtet und verrichte nun ihre täglichen Morde mit der Präzision und Regelmäßigkeit eines guten Beamten. Im Grunde und nach Ansicht der Sachverständigen war das ein gutes Zeichen. Die Kurve der Pest mit ihrem stetigen Anstieg und dem darauffolgenden langen waagerechten Verlauf erschien Doktor Rieux zum Beispiel überaus tröstlich. «Das ist eine gute, eine ausgezeichnete Kurve», sagte er. Er war der Meinung, die Krankheit habe ein Plateau erreicht, wie er es nannte. Von nun an könne sie nur noch zurückgehen. Das Verdienst hierfür schrieb er Castels neuem Impfstoff zu, der tatsächlich einige unverhoffte Erfolge erreicht hatte. Der alte Castel widersprach nicht, war aber eigentlich der Meinung, man könne nichts voraussagen, da die Geschichte der Epidemien unerwartete Rückschläge verzeichnet. Die Präfektur, die seit langem die öffentliche Meinung beruhigen wollte und der die Pest keine Möglichkeit dazu bot, nahm sich vor, die Ärzte zu versammeln und um einen diesbezüglichen Bericht zu bitten, als auch Doktor Richard von der Pest dahingerafft wurde, und zwar ausgerechnet auf dem Höchststand der Krankheit.
Angesichts dieses zweifellos eindrucksvollen Beispiels, das aber schließlich nichts bewies, kehrte die Behörde mit der gleichen Inkonsequenz zum Pessimismus zurück, wie sie vorher Optimismus gezeigt hatte. Castel beschränkte sich darauf, sein Serum so sorgfältig wie möglich herzustellen. Jedenfalls gab es kein einziges öffentliches Gebäude mehr, das nicht in ein Krankenhaus oder Lazarett umgewandelt worden war, und die Präfektur wurde nur deshalb verschont, weil man eben einen Ort für Versammlungen behalten musste. Aber im Allgemeinen wurde aufgrund der relativen Stabilität der Pest die von Rieux vorgesehene Organisation in keiner Weise überfordert. Die Ärzte und Hilfskräfte, die bis zur Erschöpfung arbeiteten, mussten sich nicht noch anstrengendere Leistungen ausdenken. Sie mussten nur weiter regelmäßig, wenn man so sagen darf, diese übermenschliche Arbeit leisten. Die schon aufgetretenen Fälle von Lungenpest nahmen jetzt an allen Enden der Stadt zu, als entzünde und schüre der Wind Brände in den Brustkörben. Unter Bluterbrechen wurden die Kranken viel schneller dahingerafft. Die Ansteckungsgefahr drohte sich mit dieser neuen Form der Seuche jetzt zu vergrößern. Offen gestanden hatten sich die Ansichten der Spezialisten in diesem Punkt immer widersprochen. Sicherheitshalber trug das Sanitätspersonal weiterhin desinfizierte Gazemasken. Auf den ersten Blick jedenfalls hätte sich die Krankheit ausbreiten müssen. Aber da die Fälle von Beulenpest zurückgingen, blieb die Bilanz ausgeglichen.
Infolge der mit der Zeit zunehmenden Versorgungsschwierigkeiten gab es jedoch andere Anlässe zur Besorgnis. Spekulanten hatten sich eingemischt, und Grundnahrungsmittel, die auf dem normalen Markt fehlten, wurden zu Phantasiepreisen angeboten. Die armen Familien befanden sich dadurch in einer äußerst bedrängten Lage, wohingegen es den reichen Familien an fast nichts fehlte. Während die Pest durch die wirkungsvolle Unparteilichkeit, mit der sie schaltete und waltete, die Gleichheit unter unseren Mitbürgern hätte verstärken sollen, verschärfte sie durch das natürliche Spiel des Egoismus in den Herzen der Menschen noch das Gefühl von Ungerechtigkeit. Es blieb zwar die untadelige Gleichheit vor dem Tod bestehen, aber von ihr wollte niemand etwas wissen. Die hungernden Armen dachten daher mit noch mehr Sehnsucht an die umliegenden Städte und Landstriche, wo das Leben frei und das Brot nicht teuer war. Da man sie nicht ausreichend ernähren konnte, hatten sie das, übrigens wenig vernünftige, Gefühl, man müsse ihnen erlauben wegzugehen. Sodass schließlich eine Parole in Umlauf kam, die manchmal auf den Mauern stand oder auch dem vorbeifahrenden Präfekten nachgeschrien wurde: «Brot oder Luft.» Diese ironische Formel gab das Signal für manche allerdings schnell unterdrückte Demonstrationen, deren Gefährlichkeit aber niemandem entging.
Die Zeitungen gehorchten natürlich der Weisung zu einem Optimismus um jeden Preis, die sie bekommen hatten. Wenn man sie las, wurde die Situation durch «das bewegende Beispiel von Ruhe und Besonnenheit» bestimmt, das die Bevölkerung zeigte. Aber in einer in
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