Die Pest (German Edition)
Voreingenommenheit für Belangloses zu gehorchen scheint. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Tarrou sei darauf bedacht gewesen, Dinge und Menschen durch ein umgekehrtes Fernglas zu betrachten. Genaugenommen bemühte er sich in der allgemeinen Verwirrung, der Geschichtsschreiber dessen zu sein, was keine Geschichte hat. Diese Voreingenommenheit kann man zwar bedauern und darin Gefühlskälte vermuten. Aber nichtsdestoweniger können diese Aufzeichnungen als Chronik jener Zeit eine Unmenge nebensächlicher Einzelheiten liefern, die gleichwohl wichtig sind und deren Absonderlichkeit gerade verhindern wird, diese interessante Figur voreilig zu beurteilen.
Jean Tarrous erste Notizen stammen aus der Zeit seiner Ankunft in Oran. Sie offenbaren von Anfang an eine seltsame Befriedigung darüber, in einer von sich aus so hässlichen Stadt zu sein. Man findet die detaillierte Beschreibung der zwei Bronzelöwen, die das Rathaus zieren, wohlwollende Überlegungen zum Mangel an Bäumen, zu den unschönen Häusern und zur absurden Anlage der Stadt. Tarrou streut noch Dialoge ein, die er in der Straßenbahn oder auf der Straße gehört hat, ohne eigene Kommentare hinzuzufügen, außer etwas später, bei einem der Gespräche über einen gewissen Camps. Tarrou hatte die Unterhaltung zweier Straßenbahnschaffner mit angehört:
«Du hast doch Camps gekannt», sagte der eine.
«Camps? Ein Großer mit schwarzem Schnurrbart?»
«Genau. Er war im Stellwerk.»
«Ja, natürlich.
«Tja, er ist gestorben.»
«Ach, und wann?»
«Nach der Geschichte mit den Ratten.»
«Sag bloß! Was hatte er denn?»
«Ich weiß nicht, Fieber. Und außerdem war er nicht kräftig. Er hatte Geschwüre unterm Arm. Er hat es nicht überstanden.»
«Dabei sah er doch ganz normal aus.»
«Nein, er war schwach auf der Brust, und er spielte im Musikverein. Immer in ein Horn blasen, das zermürbt.»
«Tja», schloss der Zweite, «wenn man krank ist, soll man nicht in ein Horn blasen.»
Nach diesen wenigen Angaben fragte sich Tarrou, warum Camps gegen sein offensichtliches Interesse in den Musikverein eingetreten war und welche tieferen Gründe ihn dazu bewogen hatten, sein Leben für sonntägliche Umzüge aufs Spiel zu setzen.
Dann schien Tarrou von einer Szene positiv beeindruckt gewesen zu sein, die sich häufig auf dem Balkon gegenüber seinem Fenster abspielte. Sein Zimmer ging nämlich auf eine kleine Seitenstraße, wo im Schatten der Mauern Katzen schliefen. Aber jeden Tag nach dem Mittagessen, um die Zeit, wenn die ganze Stadt in der Hitze döste, erschien auf der anderen Straßenseite ein kleiner alter Mann auf einem Balkon. Mit weißem, sorgfältig gekämmtem Haar, aufrecht und streng in seiner militärisch geschnittenen Kleidung, rief er zugleich reserviert und sanft die Katzen mit einem «Miez, Miez». Die Katzen hoben ihre vom Schlaf blassen Augen, noch ohne sich stören zu lassen. Der andere zerriss über der Straße Papier in kleine Stücke, und von diesem Regen weißer Falter angezogen, gingen die Tiere zur Straßenmitte und streckten eine zögernde Pfote nach den letzten Papierschnitzeln aus. Dann spuckte der kleine Alte kräftig und präzise auf die Katzen. Wenn er mit einem Spucken sein Ziel traf, lachte er.
Schließlich schien Tarrou wahrhaftig vom kommerziellen Charakter der Stadt betört gewesen zu sein, deren Aussehen, Betrieb und sogar Vergnügungen von den Notwendigkeiten des Handels bestimmt schienen. Diese Eigentümlichkeit (so der Ausdruck im Tagebuch) fand Tarrous Zustimmung, und eine seiner lobenden Anmerkungen endete sogar mit dem Ausruf: «Endlich!» Das sind die einzigen Stellen, an denen die Aufzeichnungen des Reisenden zu jenem Zeitpunkt einen persönlichen Ton anzunehmen scheinen. Es ist nur schwierig, dessen Bedeutung und Ernsthaftigkeit einzuschätzen. So hatte Tarrou nach einer Schilderung, wie die Entdeckung einer toten Ratte den Kassierer des Hotels zu einem Fehler in seiner Rechnung gebracht hatte, in einer weniger deutlichen Schrift als sonst hinzugefügt: «Frage: Was tun, um seine Zeit nicht zu verlieren? Antwort: Sie in ihrer ganzen Länge empfinden. Mittel: Tage im Wartezimmer eines Zahnarztes auf einem unbequemen Stuhl verbringen; den Sonntagnachmittag auf seinem Balkon verleben; sich Vorträge in einer Sprache anhören, die man nicht versteht; die längsten und am wenigsten bequemen Eisenbahnverbindungen aussuchen und natürlich stehend reisen; an der Theaterkasse Schlange stehen und dann seine Karte
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