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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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kräftigere Züge als er, und er musste sein Tempo steigern. Einige Minuten lang schwammen sie im gleichen Takt und mit der gleichen Kraft, einsam, fern von der Welt, endlich von der Stadt und der Pest befreit. Rieux machte als Erster halt, und sie schwammen langsam zurück, außer an einer Stelle, wo sie in eine eiskalte Strömung kamen. Von dieser Überraschung des Meeres gepeitscht, beschleunigten beide wortlos ihre Züge.
    Wieder angezogen, brachen sie auf, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Aber ihre Herzen fühlten gleich, und die Erinnerung an diese Nacht war wohltuend für sie. Als sie von weitem die Pestwache erblickten, wusste Rieux, dass Tarrou wie er dachte, dass die Krankheit sie eben vergessen hatte, dass das gut war und dass es jetzt wieder anzufangen galt.
     
     
    Ja, es galt wieder anzufangen, und die Pest vergaß niemanden allzu lange. Im Lauf des Dezember loderte sie in den Brustkörben unserer Mitbürger, sie leuchtete im Einäscherungsofen, sie bevölkerte die Lager mit Schatten, deren Hände leer waren, kurz, sie hörte nicht auf, in ihrem geduldigen, ruckweisen Gang voranzuschreiten. Die Behörden hatten darauf gezählt, dass die kalten Tage dieses Voranschreiten stoppten, und doch überstand sie die ersten rauen Temperaturen der Jahreszeit, ohne aus dem Tritt zu kommen. Man musste noch warten. Aber vor lauter Warten wartet man nicht mehr, und unsere ganze Stadt lebte ohne Zukunft.
    Für den Arzt war der flüchtige Augenblick des Friedens und der Freundschaft, der ihm geschenkt worden war, etwas Einmaliges geblieben. Man hatte ein weiteres Krankenhaus eröffnet, und Rieux traf nur noch mit Kranken zusammen. Ihm fiel jedoch auf, dass in diesem Stadium der Epidemie, in dem die Lungenpest immer mehr zunahm, die Kranken dem Arzt gewissermaßen halfen. Statt sich, wie am Anfang, der Entkräftung oder den Torheiten zu überlassen, schienen sie eine richtigere Vorstellung von ihren Interessen zu haben und verlangten von sich aus, was ihnen am zuträglichsten war. Sie wollten unentwegt trinken, und alle wollten Wärme. Obwohl für den Arzt die Müdigkeit gleich blieb, fühlte er sich unter diesen Umständen doch weniger allein.
    Gegen Ende Dezember erhielt Rieux von Monsieur Othon, dem Untersuchungsrichter, der immer noch in seinem Lager war, einen Brief; darin stand, dass seine Quarantänezeit vorüber sei, die Verwaltung aber das Datum seines Eintritts nicht finde und er ganz sicher irrtümlich im Internierungslager festgehalten werde. Seine Frau, die seit einiger Zeit wieder zu Hause sei, habe auf der Präfektur Einspruch erhoben, sei dort aber schlecht angekommen, und man habe ihr gesagt, es gebe nie Irrtümer. Rieux ließ Rambert in der Sache tätig werden, und ein paar Tage später erschien Monsieur Othon bei ihm. Es war tatsächlich ein Irrtum gewesen, und Rieux war etwas empört darüber. Aber Monsieur Othon, der dünner geworden war, hob sachte die Hand und sagte, seine Worte wägend, jeder könne sich irren. Der Arzt dachte nur, dass sich etwas an ihm verändert habe.
    «Was werden Sie nun tun, Herr Richter? Ihre Akten warten auf Sie», sagte Rieux.
    «Nein, das nicht», sagte der Richter. «Ich möchte mich beurlauben lassen.»
    «Ganz recht, Sie müssen sich erholen.»
    «Nicht deswegen, ich möchte ins Lager zurück.»
    Rieux wunderte sich.
    «Aber Sie kommen doch gerade heraus!»
    «Ich habe mich nicht verständlich ausgedrückt. Mir wurde gesagt, es gebe in diesem Lager Freiwillige in der Verwaltung.»
    Der Richter rollte ein wenig seine Glupschaugen und versuchte eines seiner Haarbüschel glattzustreichen …
    «Verstehen Sie, ich hätte eine Beschäftigung. Und außerdem – es hört sich dumm an – würde ich mich von meinem kleinen Jungen weniger getrennt fühlen.»
    Rieux sah ihn an. Es war doch nicht möglich, dass in diese harten, ausdruckslosen Augen plötzlich Sanftheit einkehrte. Aber sie waren verhangener geworden, sie hatten ihre metallene Reinheit verloren.
    «Natürlich, ich kümmere mich darum, wenn Sie es möchten.»
    Der Arzt kümmerte sich wirklich darum, und das Leben in der Peststadt ging bis Weihnachten seinen gewohnten Gang. Tarrou setzte sich weiter mit seiner ruhigen Tüchtigkeit überall ein. Rambert verriet dem Arzt, dass er mit Hilfe der zwei kleinen Wachposten ein System für einen geheimen Briefwechsel mit seiner Frau eingerichtet hatte. Er bekam hin und wieder einen Brief. Er bot Rieux an, ihm sein System zur Verfügung zu stellen, und der Arzt nahm an.

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