Die Pest (German Edition)
der Stadtgrenze, in der Nähe des steinigen Hügels. Gleichzeitig hörte man etwas, was nach einer Detonation klang. Dann trat wieder Stille ein. Rieux zählte ein zweimaliges Blinken des Leuchtturms. Die Brise schien stärker zu werden, und zugleich trug ein Windhauch den Geruch von Salz herbei. Man hörte jetzt deutlich das dumpfe Atmen der Wellen gegen die Klippe.
«Was mich eigentlich interessiert, ist, wie man ein Heiliger wird», sagte Tarrou schlicht.
«Sie glauben aber doch nicht an Gott.»
«Eben. Kann man ein Heiliger ohne Gott sein, das ist das einzige konkrete Problem, das ich heute kenne.»
Plötzlich schoss ein hoher Lichtschein an der Stelle auf, von der die Schreie gekommen waren, und ein diffuses Geschrei drang gegen den Wind bis zu den beiden Männern. Der Lichtschein wurde gleich wieder dunkler, und in der Ferne, am Ende der Terrassen, blieb nur ein rötlicher Schimmer. In einer kurzen Windstille hörte man deutlich Menschen schreien, dann das Krachen von Schüssen und das Geschrei einer Menge. Tarrou war aufgestanden und lauschte. Man hörte nichts mehr.
«An den Toren wurde wieder gekämpft.»
«Jetzt ist es vorbei», sagte Rieux.
Tarrou murmelte, es sei nie vorbei und es werde noch mehr Opfer geben, weil es unvermeidlich sei.
«Vielleicht», antwortete der Arzt, «aber wissen Sie, ich empfinde mehr Solidarität mit den Besiegten als mit den Heiligen. Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.»
«Ja, wir suchen das Gleiche, aber ich bin weniger ehrgeizig.»
Rieux glaubte, Tarrou würde scherzen, und sah ihn an. Aber in dem verschwommenen Lichtschein, der vom Himmel kam, sah er ein trauriges, ernstes Gesicht. Der Wind erhob sich wieder, und Rieux fühlte ihn lau auf seiner Haut. Tarrou schüttelte sich.
«Wissen Sie, was wir für die Freundschaft tun sollten?», sagte er.
«Was Sie wollen», sagte Rieux.
«Im Meer baden. Das ist sogar für einen künftigen Heiligen ein würdiges Vergnügen.»
Rieux lächelte.
«Mit unseren Passierscheinen können wir auf die Mole gehen. Schließlich ist es doch zu dumm, nur in der Pest zu leben. Natürlich muss ein Mann für die Opfer kämpfen. Aber was nützt das, wenn er aufhört, irgendetwas anderes zu lieben?»
«Ja, gehen wir», sagte Rieux.
Wenig später hielt das Auto an den Gittertoren des Hafens. Der Mond war aufgegangen. Ein milchiger Himmel warf überall blasse Schatten. Hinter ihnen stieg die Stadt stufenförmig an, und aus ihr kam ein heißer, kranker Hauch, der sie zum Meer trieb. Sie zeigten ihre Papiere einem Wachposten, der sie ziemlich lange prüfte. Sie wurden durchgelassen und gingen über die voll Fässer stehenden Dämme und durch Wein- und Fischgerüche auf die Mole zu. Kurz davor kündigte ihnen der Geruch von Jod und Algen das Meer an. Dann hörten sie es.
Es plätscherte leise gegen die untersten großen Blöcke der Mole, und als sie hinaufkletterten, tauchte es vor ihnen auf, dicht wie Samt, weich und glatt wie ein Tier. Sie setzten sich auf die Felsen, dem offenen Meer zugewandt. Das Wasser hob und senkte sich träge. Dieses ruhige Atmen des Meeres ließ Ölschlieren auf der Wasseroberfläche aufscheinen und verschwinden. Vor ihnen lag grenzenlos die Nacht. Rieux, der unter seinen Fingern das körnige Antlitz der Felsen spürte, war von einem seltsamen Glücksgefühl erfüllt. Als er sich Tarrou zuwandte, erriet er auf dem ruhigen, ernsten Gesicht seines Freundes das gleiche Glücksgefühl, das nichts vergisst, nicht einmal das Morden.
Sie legten ihre Kleidung ab. Rieux sprang als Erster. Das Wasser kam ihm zuerst kalt, dann, als er wieder auftauchte, lauwarm vor. Nach einigen Stößen wusste er, dass das Meer an diesem Abend lauwarm war, von der lauen Wärme der Herbstmeere, die der Erde die in langen Monaten gespeicherte Hitze entzogen. Er schwamm stetig. Sein Fußschlag ließ einen brodelnden Schaum hinter ihm, das Wasser glitt an seinen Armen entlang und schmiegte sich um seine Beine. Ein schweres Klatschen sagte ihm, dass Tarrou gesprungen war. Rieux drehte sich auf den Rücken und lag reglos angesichts des umgekippten Himmels mit dem Mond und den Sternen. Er atmete tief. Dann vernahm er immer deutlicher ein in der Stille der Einsamkeit und der Nacht seltsam klares Klatschen im Wasser. Tarrou näherte sich, er hörte bald sein Atmen. Rieux drehte sich wieder um, schloss zu seinem Freund auf und schwamm im gleichen Rhythmus. Tarrou machte
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