Die Pest zu London
weiter mitzuteilen, sondern in der Natur des Menschen selbst, die ihn, mit einem üblen Willen oder dem 196
bösen Blick, dazu bringt, daß er – wie man es von einem tollwütigen Hund sagt, der, obwohl vorher die sanfteste Kreatur seiner Art – dann doch über den ersten, der vorbeikommt, herfällt und ihn beißt, und nicht nur solche, sondern auch jemand, dem er bislang ergeben gehorchte.
Andere machten die Verderbnis der menschlichen Natur verantwortlich, die es nicht ertragen könne, sich selbst elender als andere seiner eigenen Spezies zu wissen, und von so etwas wie dem unfreiwilligen Wunsch beseelt sei, alle Menschen möchten so unglücklich oder in einer so schlimmen Lage sein wie sie selbst.
Andere wieder meinen, es sei nur eine Art von Verwirrung gewesen, in der sie nicht wußten und nicht achteten, was sie taten, und infolgedessen unbekümmert um Gefahr oder Sicherheit waren, nicht nur für andere in ihrer Umgebung, sondern auch für sich selbst. Und freilich, wenn Menschen einmal so weit sind, sich gehenzulassen und sich nicht mehr um Gefahr oder Sicherheit für sich selbst zu kümmern, dann kann man sich nicht so sehr wundern, wenn sie sich auch um anderer Leute Sicherheit nicht sorgen.
Ich aber entschied mich bei dieser gewichtigen Frage für eine Antwort und Lösung, die das Ganze aus einem anderen Gesichtspunkt betrachtete, indem ich sagte: Ich leugne die Vor-aussetzung. Im Gegenteil, sagte ich, die Tatsachen verhalten sich in Wirklichkeit so, daß dies eine allgemeine Beschwerde war, die von den Bewohnern der anliegenden Dörfer gegen die Stadtbürger erhoben wurde, um jene Härten und Unnachgie-bigkeiten, von denen so viel die Rede war, zu rechtfertigen oder wenigstens zu entschuldigen; und so kann man sagen, sie beklagten sich übereinander, weil beide Seiten gegeneinander im Unrecht waren; das heißt, die Städter drängten zuerst, obschon sie die Pest am Leibe hatten, in der Zeit der Not gastliche Aufnahme zu finden und beklagten sich dann über die Grausamkeit und Ungerechtigkeit der Landbevölkerung, die 197
ihnen den Zutritt verwehrte und sie mit Hab und Gut und Familie wieder zurückzugehen zwang; und die Landbewohner fühlten sich überrumpelt von den Städtern, die gewissermaßen bei ihnen einbrachen, ohne viel zu fragen, und beschwerten sich nun, die Pestkranken seien nicht nur rücksichtslos gegen andere gewesen, sondern hätten es sogar darauf abgesehen, sie anzustecken; keines von beiden war wirklich war, das heißt, jedenfalls nicht so, wie man es ausmalte.
Es spricht zwar manches für den Alarm, der auf dem Land häufig gegeben wurde, daß die Leute Londons entschlossen seien, mit Gewalt herausgezogen zu kommen, nicht nur um sich zu sättigen, sondern um zu plündern und zu rauben; oder wenn es hieß, sie liefen ohne jede Kontrolle mit der Pest im Leibe auf den Straßen herum; und niemand sorge dafür, daß Häuser gesperrt würden, um die Kranken zu hindern, die Gesunden anzustecken; während man doch, um den Londonern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sagen muß, daß nichts von alledem vorgekommen ist, außer in solch besonderen Fällen wie ich oben erwähnte, oder in ähnlichen. Es wurde vielmehr alles mit solcher Sorgfalt geregelt, und unter der Obhut des Lordbürgermeisters und der Stadträte, in den Au-
ßenbezirken der Friedensrichter und Gemeindevorsteher usw., wurde in Stadt und Vororten so mustergültig Ordnung gehalten, daß London allen Städten der Welt ein Vorbild sein kann für die gute Regierung und die ausgezeichnete Ordnung, die überall aufrechterhalten wurde, auch zu der Zeit des heftigsten Wütens der Seuche und als die Leute in der äußersten Be-drängnis und Bestürzung waren. Aber hierüber werde ich an gegebener Stelle sprechen.
Eines, das muß bemerkt werden, war hauptsächlich der Klugheit der Behörden zu verdanken und sollte zu ihren Ehren erwähnt werden, nämlich die Mäßigung, die sie bei der großen und schwierigen Aufgabe des Absperrens der Häuser übten. Es ist wahr, das Absperren der Häuser war, wie ich schon sagte, 198
ein Gegenstand großen Unmuts, und ich kann sagen, zu der Zeit der einzige Gegenstand des Unmuts unter den Leuten; denn das Einschließen der Gesunden im gleichen Haus mit den Kranken wurde als eine fürchterliche Maßnahme angesehen, und die Klagen der so Eingeschlossenen waren sehr belastend.
Man konnte sie bis auf die Straße hören, und manchmal waren sie so, daß sie Empörung auslösten, wenn auch
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