Die Pestärztin
keine Muselmanin!« Er wandte sich an Al Shifa. Die streichelte das Kind schicksalsergeben. Ihr kurzer, aufbegehrender Blick war erloschen. Al Shifa kannte ihre Möglichkeiten. Für sie und dieses Kind gab es in Mainz keine Zukunft.
»Aber grundsätzlich würdet Ihr es aufziehen, Reb Speyer?« Rachel gab so schnell nicht auf. »Wenn sich vielleicht eine christliche Pflegemutter fände?« Obwohl sie sich an Benjamin als den Hausherrn wandte, blickte sie Sarah an. Die junge Mutter lächelte dem fremden Kind jetzt zu. Al Shifa hatte es geistesgegenwärtig neben sie gelegt, damit sie es genauer anschauen konnte. Und Sarah fand sich plötzlich mit einem Neugeborenen in jedem Arm wieder.
»Grundsätzlich schon ...«, meinte von Speyer zögerlich. Auch er sah das Schimmern in Sarahs Augen, doch für ihn bedeutete es weniger Hoffnung als Komplikationen.
»Dann fragen wir jetzt euer Küchenmädel!«, erklärte Rachel entschlossen. »Die ist doch Christin, oder? Jedenfalls bekreuzigt sie sich alle naslang, auch wenn sie sonst nichts zustande bringt. Wo habt ihr sie überhaupt her? Sie scheint mir nicht sehr aufgeweckt.«
Benjamin lächelte. »Da war Sarah auch wieder zu weichherzig. Die Mutter kam an unsere Schwelle, um das Mädchen in Lohn zu geben. Sie ist nicht die Klügste, aber das zweitälteste von zehn Kindern, und sie brauchte eine Stelle. Und um Wasser zu tragen und am Sabbat die Lichter anzustecken, braucht's nicht viel Verstand ...« In fast jedem jüdischen Haus gab es einen oder mehrere christliche Diener. Sie nahmen den Herrschaften am Samstag Verrichtungen ab, die ihnen als gläubigen Juden untersagt waren.
Rachel nickte. »Bei zehn Kindern fällt eins mehr oder weniger kaum auf«, erklärte sie mit einem Blick auf ihr Findelkind. »Die Mutter wird's gern für ein paar Pfennige in Kost nehmen. Und wenn die Kleine zur Arbeit kommt, kann sie's mitbringen. Das Mädel wohnt doch zu Hause, oder?«
Sarah nickte. »Selbstverständlich. Das Grietgen geht jeden Abend heim. Ihr wisst doch ...«
Juden war es verboten, christliche Diener unter ihrem Dach zu beherbergen.
Rachel strahlte. »Na also! Wo zehn unterkommen, da kommen auch elf unter! Und keiner wird fragen, woher sie das neue Balg haben, da zählt doch gar niemand mehr mit. Wie ist es, Reb Benjamin? Wollt Ihr mit dem Mädchen reden?«
Al Shifa griff fast ungläubig nach dem Kind, von dem sie sich vorhin wohl schon verabschiedet hatte. Benjamin von Speyer sah den Ausdruck in ihren Augen. Er schuldete ihr etwas. Ohne ihr Eingreifen hätte sein Sohn damals nicht überlebt.
Schließlich nickte er.
»Dann denkt euch einen Namen aus«, meinte er, während er aufstand, um das Küchenmädchen aufzusuchen, das wahrscheinlich schon süß neben dem Ofen schlief. Die Speyers mussten es jeden Abend fast mit Gewalt nach Hause schicken. Ob es wirklich eine so gute Tat war, nun auch noch das Findelkind in diese Familie zu stecken? Viel Wärme und Geborgenheit gab es in Grietgens Heim ganz sicher nicht.
Grietgen verstand nicht recht, worum es ging; sie war wirklich nicht die Klügste. Von Speyer musste schließlich mit ihr nach Hause gehen und mit ihrer Mutter sprechen. Voller Abscheu tastete er sich durch die verschmutzten Straßen am Rand des Viertels »Unter den Juden«. Raffgierige Vermieter hatten hier die Gänge zwischen den Häusern, die ursprünglich dem Brandschutz dienten, mit Holz überbaut. So entstanden primitive Unterschlüpfe, »Buden« genannt, in denen arme Familien ein Dach über dem Kopf fanden. Sollte es wirklich mal brennen, raffte es diese Bauten natürlich als Erstes dahin. Zum Schutz der angrenzenden Steinhäuser hatte man Brandmauern errichtet. Von Speyer zog den Kopf ein, als Grietgen klopfte. Die Dachkallen waren nicht dicht, und der Regen ergoss sich aus den rissigen Rinnen auf seinen Kopf.
Grietgen schien die Nässe kaum zu bemerken. Sie huschte rasch ins Innere der Bude und überließ von Speyer die Verhandlungen mit ihrer Mutter. Rike Küferin erwies sich dabei als zäh und gerissen. Binnen kürzester Zeit handelte sie einen geradezu fürstlichen Pensionspreis für das kleine Mädchen aus.
»Ihr müsst das verstehen, Herr, es geht auch um die Ehre«, erklärte sie treuherzig. »Die Leute werden alle denken, das Balg sei von meinem Grietgen. Dabei ist das Mädel unschuldig wie das Lamm Gottes, Herr! Und wer weiß, vielleicht find sich gar ein Ehemann. Aber wenn da erst ein Balg ist ...«
»Ihr könntet es als das Eure ausgeben«,
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