Die Pestärztin
Synagoge spähte Lea oft von der Empore der Frauen hinunter zu den Männern und versuchte, sich den schönsten der heiratsfähigen Jungen auszuwählen. Sie hatte zwar nur ein geringes Mitspracherecht bei der Wahl ihres Gatten, aber wenn sie einen Jungen fand, den sie mochte und der obendrein reich und klug war, würden ihre Eltern sich nicht sträuben, auch mit seiner Familie Verbindung aufzunehmen.
Lucias Gedankengänge waren noch nicht so konkret. Die christlichen jungen Männer, die sie kannte, stießen sie allesamt ab. Dabei hatten Eberhard und seine Kumpane jetzt aufgehört, sie zu necken. Stattdessen begannen sie, das hübsche Mädchen zu umgarnen, sprachen davon, ihr Küsse zu rauben, und folgten ihr mit lüsternen Blicken.
Eines Tages beobachtete Al Shifa dieses Treiben und erregte sich fast so darüber wie über die »Privatstunden« beim Pfarrer.
»Geh niemals im Dunkeln aus dem Haus, Lucia! Gesell dich den Frauen zu, wenn du zur Kirche und zurück gehst. Ich werde den Herrn auch bitten, dir den Knecht mitzugeben, wenn du abends mit Grietgen nach Hause gehst. Deine Jungfräulichkeit ist dein höchstes Gut, Lucia. Achte darauf, sie nicht zu vergeuden!«
Tatsächlich wandte die Maurin sich gleich am Abend an ihren Herrn, doch Benjamin von Speyer winkte ab.
»Nun übertreib es mal nicht, Al Shifa«, mahnte der Kaufmann. »Wir sind nicht in Al Andalus, und es geht um keinen Brautpreis. Unter den Christen sind die Sitten lockerer, erst recht bei Familien wie der Küferin. Dem Grietgen würd's nicht schmecken, wenn du sie unter die Aufsicht vom Hans stellst. Oder hast du nicht gesehen, dass neuerdings ein Galan auf sie wartet, wenn sie nur um die Ecke geht?«
Al Shifa mochte das nicht bemerkt haben, aber Lucia war es selbstverständlich nicht entgangen. Sie wusste jetzt auch ziemlich genau, was unter »unzüchtigen Handlungen« zu verstehen war, und es machte ihr Angst, wenn Grietgen in den Armen des Jungen quietschte und stöhnte, sobald er unter ihre Röcke griff. Meist überließ sie die zwei dann sich selbst und rannte allein zur Bude der Küferin. Die Begleitung des Knechtes wäre ihr dabei nicht unlieb gewesen.
»Lucia ist nicht so!«, beharrte Al Shifa und fixierte ihren Herrn mit beinahe bösem Blick.
Von Speyer jedoch ließ sich nicht erweichen. »Lucia muss sich klar werden, welchem Stand sie angehört«, erklärte er kühl. »Ich mache mir da langsam Sorgen, Al Shifa. Sie wird erwachsen. Und so sehr es dir und Sarah auch gefallen hat, das Kind zu hätscheln wie einen Schoßhund: Sie ist nicht unseresgleichen, und deinesgleichen erst recht nicht! Auf die Dauer muss sie aus dem Haus und sich behaupten. Du tust ihr keinen Gefallen, wenn du ihr jetzt eine Leibwache stellst.«
Al Shifa wollte erneut auffahren, senkte dann aber demütig den Kopf. »Ihr habt recht, Herr«, sagte sie widerwillig. »Aber es kann nicht richtig sein, wenn ein Kerl sie in eine Ecke hinter der Schenke drängt und missbraucht. Sie ist erst vierzehn, Herr! Und auch brave Christenmädchen gehen als Jungfrauen in die Ehe.«
»Dann finde doch einen Mann für sie!«, meinte Benjamin von Speyer brüsk und ließ die Maurin stehen. Ganz offensichtlich wollte er sich mit Lucias Angelegenheiten nicht weiter befassen.
Al Shifa sah ihm verständnislos nach. Seine Härte überraschte sie. Bislang hatte sie stets angenommen, dass auch von Speyer Lucia mochte und sich an ihrem aufgeweckten Wesen freute.
Lucia selbst dagegen ahnte, warum ihr Pflegevater ihr neuerdings abweisend gegenüberstand. Erkannte sie in den letzten Wochen doch das lüsterne Glimmen im Blick der Straßenjungs in den Augen eines Knaben wieder, bei dem sie es am wenigsten erwartet hätte: David von Speyer betrachtete sie wohlgefällig - gut möglich, dass dies seinen Vater erzürnte. Benjamin von Speyer hätte es gern gesehen, wenn Lucia einen christlichen Galan gefunden hätte, wie Grietgen Küfer. Dazu aber konnte Lucia sich nicht überwinden. Nach wie vor gefiel ihr keiner der Jungen, die sie auf dem Weg zur Kirche ansprachen und neckten.
Als sie am Abend mit Grietgen nach Hause ging, folgte ihnen David von Speyer. Der Junge hatte die Unterhaltung zwischen seinem Vater und Al Shifa gehört und war nun fest entschlossen, Lucia selbst den Geleitschutz zu geben, den sein Vater ihr verwehrt hatte. David selbst besaß noch keine Waffe, auch wenn er sich ein wenig im Schwertkampf übte. Den Juden war der Besitz eines Schwertes nicht untersagt; aber es wurde nicht
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