Die Pestärztin
gern gesehen, wenn sie es in der Öffentlichkeit trugen. Schließlich standen sie unter dem Schutz des Bischofs, und es wurde als Undankbarkeit ausgelegt, wenn sie trotzdem meinten, sich verteidigen zu müssen. Die reichen Kaufleute ließen ihre Söhne allerdings durchweg im Gebrauch der Waffe unterrichten. Auf ihren Reisen durften sie nicht hilflos sein.
Doch David musste jetzt all seinen Mut zusammennehmen, um das Schwert seines Vaters aus dessen Kontor zu holen. Von Speyer selbst trug es fast nie, hielt es aber stets parat.
David schloss die Hand um den Griff und ließ die Waffe nicht los, während er hinter Grietgen und Lucia her schlich. Missbilligend beobachtete er, wie die kleine Magd mit ihrem Liebhaber in einem Hinterhof verschwand, und behielt Lucia anschließend im Auge, bis die Tür der Küferin sich hinter ihr schloss. Dabei hegte er grimmige Gedanken. Egal, was sein Vater dachte und sagte, Lucia durfte nichts geschehen. Niemand sollte sie berühren!
Niemand außer ihm.
5
L ucia hatte David von Speyer nie mehr als brüderliche Gefühle entgegengebracht. Eigentlich nicht einmal die, denn der Altersunterschied zwischen Lea und ihren Brüdern war zu groß, als dass sie wirklich miteinander hätten aufwachsen können. Außerdem waren die Jungen praktisch den ganzen Tag mit ihrem Studium beschäftigt. Natürlich sah sie David und Esra bei den gemeinsamen Mahlzeiten oder bei Festen, aber auch da tanzten, sangen und plauderten Männer und Frauen meist getrennt, und die Jungen fühlten sich schon zu erwachsen, um mit den Kindern zu spielen. Erst jetzt, da sie Davids forschende Blicke bemerkte, sah Lucia auch ihrerseits genauer hin, bemerkte Davids Ausdruck und betrachtete seine Gestalt. Dabei gefiel ihr der Junge durchaus. David war hochgewachsen und sehnig wie sein Vater, und er besaß auch dessen klaren Gesichtsschnitt. Allerdings hatte das Leben noch keine Falten in Davids Antlitz geschnitten, und die Strenge und der Ernst in den Zügen der meisten jüdischen Männer ging ihm bislang ab. Stattdessen zeigte Davids Gesicht noch einen Hauch von kindlicher Weichheit, die fast rührend wirkte, wenn der Junge Zerknirschung heuchelte, um nach irgendeinem Streich der Bestrafung zu entgehen. Sein Haar war flachsblond wie Sarahs, und sie hatte ihm auch ihre Augenfarbe vererbt: David blickte aus dunkelbraunen, klugen Augen in die Welt. Sein Blick war forschend, aber genau wie sein Bruder und Lea zeigte er wenig wissenschaftliche Neugier. Die Kinder der Speyers studierten pflichtschuldigst, doch ohne große Begeisterung. Den Jungen ging es nur um das Rüstzeug für spätere Geschäftsreisen, denen sie jetzt schon voller Spannung entgegensahen. Lea lernte gerade so viel, um ihrem späteren Ehegatten eine kluge und weltgewandte Gesprächspartnerin zu sein und ihren Töchtern eine angemessene Erziehung angedeihen zu lassen. Alle drei Speyer-Kinder verstanden sich denn auch besser aufs Rechnen als auf Grammatik, Philosophie und Sprachen. Lucia hatte sich oft Zuckerzeug verdient, indem sie die Hausaufgaben der Jungs in diesen Fächern gewissermaßen nebenbei erledigte. In letzter Zeit fragte David sie aber nicht mehr danach. Er war wohl zu stolz, um Schwächen einzugestehen.
Auch das Studium der Medizin, selbst wenn es nur um Hausmittel ging, interessierte Lea wenig. Je älter sie wurde, desto häufiger fand sie Gründe, Al Shifas Unterrichtsstunden zu schwänzen. Lieber ließ sie sich von ihrer Mutter im Nähen und Sticken unterweisen und begleitete Sarah bei allen Verrichtungen, die zur Führung eines großen Haushalts erforderlich waren. Sarah sah es mit Wohlwollen, bestand aber darauf, dass Lea weiterhin Hebräisch lernte und die wichtigsten medizinischen Ratgeber studierte.
»Du wirst später keine Al Shifa um dich haben, wenn deine Kinder krank sind!«, mahnte sie. »Und die Bücher selbst kannst du nicht lesen. Der ›Kanon der Medizin‹ soll ja jetzt ins Lateinische übersetzt sein. Benjamin sucht nach einer Ausgabe für deinen späteren Haushalt. Aber auch dann wärest du auf deinen Gatten angewiesen. Es ist besser, du lernst die wichtigsten Dinge selbst.«
Also hockte Lea mürrisch auf dem Diwan im Zimmer ihrer Mutter, während Lucia aus Ar-Rasis »Handbuch« vorlas und dabei gleich übersetzte.
»Als Abführmittel eignen sich Sennesblätter, Tamarinden, Cassia, Aloe und Rhabarber«, fasste sie einen längeren Abschnitt des Werkes zusammen. »Und wir sind gehalten, das Quellwasser vor dem Kochen
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