Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
Vom Netzwerk:
aufdringlich. Im Gegenteil, er wagte auch nach seiner Entdeckung nicht, einfach neben ihr herzugehen. In Begleitung eines Juden bei Nacht durch die Stadt zu flanieren wäre für das Mädchen schließlich fast kompromittierender gewesen, als sich einem Christenjungen im Hinterhof hinzugeben. Doch David ließ sich nicht sehen; es war nur da wie ein Schatten. Lucia brachte ihm dafür immer dankbarere und liebevollere Gefühle entgegen.
    Al Shifa erhoffte sich von Lucias neuer Stellung außerdem ein Ende der privaten »Katechismus-Unterweisung« beim Pfarrer von St. Quintin. Ihr Zögling winkte zwar nur lachend ab, wenn sie argwöhnisch danach fragte, aber auch der Pfaffe wurde zudringlicher, je mehr weibliche Formen Lucia entwickelte. Dabei schien er ihr einerseits näherkommen zu wollen, ihr andererseits jedoch übel zu nehmen, dass sie ihn offensichtlich erregte. Evas Sündenfall wurde immer häufiger zum Thema in seinen Stunden, und Lucia wusste schon nicht mehr, wie unauffällig sie sich noch kleiden und wie tief sie den Kopf noch tragen sollte, um keinen Unmut zu erregen.
    Die Einzige, die geradezu stürmisch Einspruch gegen Lucias Übersiedlung in die Straße »Unter den Wollengaden« erhob, war Lea. Sie empfand es als Affront - gegen Lucia und sich selbst -, dass man ihr die Freundin rauben wollte.
    »Wenigstens bis zur Hochzeit musst du bleiben!«, bestürmte sie das Mädchen. »Mit wem soll ich denn all die Sachen für die Aussteuer aussuchen? Und wer hilft mir beim Ankleiden vor dem Fest? Ach, und all die langweiligen Gebete, die ich noch lernen soll, und die Bücher, die Mutter mich zu lesen zwingt! Wie soll ich das ohne dich schaffen?«
    Lucia, peinlich berührt, nahm sie in die Arme. Offensichtlich hatten die Speyers Lea gegenüber den Eindruck erweckt, sie ginge aus freien Stücken. Ihr selbst dagegen war die Lehrstelle beim Schneider als unabänderliche Entscheidung hingestellt worden.
    »Ich bin ja nicht aus der Welt, Lea«, beruhigte sie ihre Freundin. »Du kannst mich zu deiner Hochzeit einladen. Ich würde sie mir um nichts in der Welt entgehen lassen! Und wenn ich frei habe, will ich auch gern mit dir studieren. Aber sonst wird es Zeit für mich zu gehen. Ich ...«
    »Du willst weg von uns, weil wir Juden sind, nicht wahr? Ist es nicht so, Lucia?« Lea wirkte fast etwas gekränkt, doch gleich darauf blitzte Verständnis in ihren freundlichen blauen Augen auf. »Weil du hier keinen Mann zum Heiraten findest! Ach, Lucia, ist das nicht das Allerdümmste, was Menschen sich je ausgedacht haben? Wir sind doch Schwestern, wir waren immer zusammen, du kannst all unsere Gebete - viel besser als ich. Wenn ich zu entscheiden hätte, würde ich dich mit einem meiner Brüder vermählen! Was meinst du? Wen magst du lieber? Esra oder David?«
    Für Lea war das müßige Tändelei; Lucia jedoch errötete zutiefst. Die Verbindung zwischen einem Juden und einer Christin war strengstens verboten, wobei es diesmal von beiden Seiten so gesehen wurde. Und selbst wenn sie Jüdin wäre ... Undenkbar, dass die Speyers ihren Sohn mit einem Findelkind verheiraten würden.
    »Der Meister Friedrich hat ja keinen Sohn«, überlegte Lea weiter. »Aber wenn du erst in der Schneiderzunft Bekannte findest ... Du bist so hübsch, Lucia, dich nimmt auch einer ohne Mitgift!«

6
 
    I m Grunde graute es Lucia vor einem Leben in der Handwerkerschaft von Mainz, und sie sah auch wenig Sinn in einer Lehre bei Meister Schrader. Als Frau würde sie kaum zur Meisterin aufsteigen, selbst wenn sie dem Schneidern mehr abgewinnen könnte, als es jetzt der Fall war. Der Umgang mit Nadel und Faden war ihr zwar nicht zuwider, aber das Studium der Sprachen und vor allem der Medizin zog sie deutlich vor. Sie konnte das »Handbuch« des Ar-Rasi inzwischen fast auswendig, doch der Kanon der Medizin verlangte fortgeschrittene Arabischkenntnisse, und Lucia hatte ihm kaum zur Hälfte gelesen.
    Insofern wäre sie lieber bei einer Hebamme in die Lehre gegangen als beim Schneider. Rachel wollte jedoch keine christliche Schülerin, und die zwei christlichen Hebammen in Mainz unterrichteten ihre eigenen Töchter. Als letzten Ausweg hatte Lucia noch an ein Kloster gedacht. Viele Mönchs- und Nonnenorden pflegten Kranke und hüteten das spärliche Wissen des Abendlandes über Medizin. Doch auch die Orden verlangten eine Mitgift; zudem konnte Lucia sich kaum dazu durchringen, ihr Leben fast ausschließlich Gott zu weihen. Der Gedanke, Christus zum Gatten zu nehmen,

Weitere Kostenlose Bücher