Die Pestärztin
Schutz von den Stadtbütteln oder den Räten, bei denen einer die Verantwortung auf den anderen abschieben konnte. Da konnte eher der Bischof den Verfolgten seine Höfe oder seine Kirchen öffnen. Ob er das aber tat, für eine Steuer von 112 Mark Aachener Pfennige, die gerade mal 56 Pfund Silber entsprach? Nun schien es ohnehin nicht viel zu nutzen. Beim letzten großen Pogrom vor 200 Jahren hatte der Mob die jüdische Gemeinde auf dem Hof des Bischofs abgeschlachtet.
Lucia wunderte sich immer wieder über den Hass, der in den Stimmen der Männer mitschwang, wenn es um ihre jüdischen Mitbürger ging. Die Neckereien der christlichen Jungen im Judenviertel waren lästig gewesen, doch Lucia und Lea hatten sich niemals wirklich bedroht gefühlt. Inzwischen aber begriff das Mädchen, wovor Benjamin von Speyer und seine Freunde sich fürchteten - und wovor all ihr Geld und ihre vermeintliche Macht sie nicht schützten.
Um die Mittagszeit brachte die Meisterin Lucia einen Imbiss in die Werkstatt. Auch die gelegentlich mitarbeitenden Gesellen aßen nur rasch etwas Brei oder Brot, um dann gleich wieder an die Arbeit zu gehen. Der Meister gönnte sich eine längere Pause, und mitunter drangen dann auch verführerischere Düfte aus der Küche der Meisterin. Die Gesellen pflegten ausgiebig darüber zu schimpfen - um dann nahtlos zu Schmeicheleien für Lucia überzugehen. Sie nahmen sich allerdings nie Frechheiten heraus. Da war die Meisterin vor! Die Schraderin neigte dazu, sich anzuschleichen, wenn Lucia mit einem Jüngling allein war, und hoffte wohl, sie bei unzüchtigen Handlungen zu erwischen. Das gelang ihr aber nie. Im Gegenteil, Lucia kam ihre Neugier gerade recht. Sie hielt die jungen Männer in Schach, die ihr durchweg nicht gefielen. Zwar hatten sie manchmal viele Städte und Gemarkungen erwandert - einige waren sogar in fremden Ländern gewesen -, doch nur selten hatten sie mehr darüber zu berichten, als die Mahlzeiten aufzuzählen, die man in dortigen Schenken servierte, oder über das Bier und den Wein zu schwadronieren. Die jeweiligen Meister und Meisterinnen wurden ausgiebig geschildert, doch wenn Lucia etwas über die Städte selbst wissen wollte, mussten die Jungen passen. Sie wanderten nicht von Ort zu Ort, sondern von Schneiderei zu Schneiderei. An die oft farbigen Erzählungen der jüdischen Kaufleute, die den Sitten und Gebräuchen, den neuen Entwicklungen und großen Geistern ihrer Gastländer viel Aufmerksamkeit schenkten, kamen die Berichte der Gesellen nicht heran. Lucia war deshalb froh, wenn diese Burschen sich wieder aus dem Staub machten, um anderswo einen großzügigeren Meister zu finden. Ihr machte das Alleinsein nichts aus. Sie genoss die Stille in der Nähstube, wenn Meister Friedrich zu Tisch war, und hing ihren Gedanken nach. Manchmal rekapitulierte sie ganze Kapitel aus dem »Handbuch« des Ar-Rasi, um nur nichts zu vergessen. Und sie ertappte sich dabei, von besseren Zeiten zu träumen. Wenn sie sich doch auch auf eine Heirat und ein eigenes Heim freuen könnte wie Lea!
Aber das waren müßige Gedanken. Lucia versuchte sich zur Demut zu zwingen. Sie musste mit dem zufrieden sein, was sie hatte. Wenn sie nur wenigstens Al Shifa mitunter hätte sehen können! Lucia fieberte dem Himmelfahrtstag entgegen, einem der wenigen Tage, an denen der Meister ihr frei geben musste. Dann würde sie zur Küchentür der von Speyers schleichen und nach der Maurin fragen. Aber bis dahin waren es noch Wochen hin.
Dann aber geschah etwas, das wieder Spannung und Farbe in Lucias langweiliges Leben brachte. Denn auch wenn Sarah und Benjamin Speyer froh waren, ihr christliches Pflegekind loszuwerden - Lea und vor allem David hatten Lucia nicht vergessen.
Lucia traf ihren jüdischen Pflegebruder zum ersten Mal an einem Dienstag, als sie ihr karges Mittagsmahl beendet, sich ein wenig gereckt und gestreckt und dann auf den Weg zum Abtritt im Hof gemacht hatte.
Der Junge trat aus einer Mauernische, die vom Haus aus nicht einzusehen war, und strahlte sie an.
»Lucia! Ich dachte schon, ich würde dich nie mehr treffen! Seit Tagen nutze ich jeden Ausgang, um ein wenig hier zu verweilen. Irgendwann, dachte ich, wirst du herauskommen. Und da bist du endlich!« David wirkte so angeregt, als wäre sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen.
Lucia runzelte die Stirn. Auch sie freute sich über seinen Anblick, aber das würde sie nicht zugeben. »Du hast hier herumgestanden und auf mich gewartet?«, fragte sie.
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