Die Pestärztin
erschien ihr abwegig, und spätestens seit jenem vergeblichen Gebet in der kalten Kirche St. Quintin brachte sie dem Gottessohn auch wenig Vertrauen entgegen. Womöglich unterlagen die Christen ja wirklich einem Irrtum, und der Messias war noch gar nicht unterwegs ... Als sie Al Shifa gegenüber einmal diese Überlegung äußerte, schlug die Maurin die Hände über dem Kopf zusammen. Bei einem solch ketzerischen Gedankengut würde Lucias Klosterkarriere womöglich auf einem Scheiterhaufen enden.
Immerhin gestaltete sich Lucias neues Leben »Unter den Wollengaden« als recht harmonisch, obwohl es natürlich nicht mit dem Luxus im Haus der Speyers zu vergleichen war. Lucias Tag als Lehrtochter begann beim ersten Morgengrauen. Sie stand noch vor der Meisterin auf und heizte den Ofen an. An der Zubereitung des Breis für die Morgenmahlzeit durfte sie sich allerdings nicht beteiligen. Die Meisterin war geizig und befürchtete stets, Lucia würde sich an den Lebensmitteln schadlos halten, wenn sie ihr den Zugang zur Speisekammer ermöglichte. Dabei gab es ohnehin meist nur Gersten- oder Haferbrei, keine Hirse, wie bei den Speyers, und er wurde nicht mit Honig gesüßt oder mit Salz gewürzt, sondern schmeckte nach gar nichts. Manchmal wärmte die Meisterin auch nur eine fade Hirsesuppe und reichte hartes Brot dazu. Lucia, die aus dem Haus des Fernkaufmanns reich gewürzte Speisen kannte, aß lustlos und ließ auch das selbst gebraute Bier meist stehen. Sie war eher verdünnten Wein gewohnt; aber der wurde in Handwerkerhaushalten nur zu besonderen Anlässen gereicht. Überdies waren Meister Friedrich und seine Gattin frömmlerische Geizhälse; die Länge des Tischgebets pflegte die karge Mahlzeit weit zu überschreiten. Deshalb blieb auch kein wandernder Geselle lange genug, um sich richtig in der Werkstatt einzuarbeiten. Im Wesentlichen waren es der Meister und Lucia, die vom ersten Sonnenstrahl bis zum Dunkelwerden nähten, um allen Aufträgen gerecht zu werden. Und daran war kein Mangel; Meister Friedrich galt als erfahren, ehrlich und war vor allem eine Stütze der Gemeinde. Das schuf einen reichhaltigen Kreis an Freunden und Kunden, und er knauserte auch nicht, wenn er die Männer bewirtete, die zum Plaudern oder zum Anmessen eines neuen Gewandes in seine Werkstatt oder seine Stube kamen.
Lucia brachte er zunächst nicht viel bei. Das Sticheln sauberer Nähte beherrschte sie schließlich längst, und sie kannte die Unterschiede zwischen Leinen- und Wollfäden, Zwirn aus Seide oder Baumwolle, sowie Kölschem Garn, einem azurblauen Zwirn aus Leinen, der vor allem für Frauengewänder Verwendung fand. Anfangs stach sie sich oft in den Finger, wenn sie die Nadel durch schwere Stoffe stieß - beim Nähen von Kleidern für sich oder Lea hatte Lucia immer nur leichtes Tuch oder Seide verarbeitet. Sie gewöhnte sich jedoch schnell daran, ihren Mittelfinger durch einen aufgesteckten Ring zu schützen. Schwerer war die Arbeit mit dem Bügeleisen. Meister Friedrich überließ es fast ausschließlich seinem Lehrmädchen, die Kleidung vor der Auslieferung zu plätten, und anfangs wusste Lucia kaum, wie sie das fast dreißig Pfund schwere Eisen heben sollte. Lieber hätte sie sich am Zuschneiden der Stoffe versucht, aber bevor dies einem Lehrling erlaubt wurde, vergingen Jahre. Lucia fand sich widerwillig damit ab, diese Jahre hier in der Nähstube zu verbringen, tröstete sich aber immer wieder damit, dass es langweiligere Arbeitsplätze gab. Meister Friedrich empfing zum Beispiel täglich Kunden, und sie lauschte dem Gespräch der Männer über Gott und die Welt. Die Handwerker schimpften über den Stadtrat, dessen Mitglieder traditionell aus Patriziergeschlechtern gewählt wurden. Die reichen Fräcke, so erklärten sie, täten nichts für die Bürger, und Meister Friedrich räsonierte, es wäre Zeit für die Zünfte, mehr Mitsprache zu fordern. Auch die Juden waren oft ein Thema, wobei die Männer sich über die Preise der Kaufleute und Geldverleiher erregten. Der Erzbischof kam hier allerdings auch nicht gut weg, verleibte er sich doch angeblich die gesamten Abgaben der Juden an die Stadt ein. Aber das stimmte nicht, wie Lucia wusste: Seit fast hundert Jahren gingen die hohen Schutzgelder der Juden an die Stadt Mainz; der Erzbischof erhielt nur einen Anteil von 112 Mark Aachener Pfennige im Jahr. Die jüdischen Gemeindevorsteher waren über diese Regelung tief beunruhigt. Sie erhofften sich im Fall von Ausschreitungen kaum
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