Die Pestärztin
»Aber warum denn? Das muss doch langweilig gewesen sein. Und was, wenn dich jemand gesehen hätte?«
David schüttelte den Kopf. »Allein dich so nahe zu wissen ... nur durch eine Mauer von dir getrennt zu sein ... Für mich sind das die schönsten Augenblicke des Tages! Nun, und wenn jemand kommt, gehe ich weiter. Ich hab ja meinen Auftrag. Ohne Grund könnte ich mich nicht vom Kontor wegschleichen. Aber nun lass dich ansehen, Lucia! Du bist blass geworden. Und dünn. Warum kommst du nicht mehr zu uns? Du könntest uns doch besuchen!«
Lucia zuckte die Schultern. Unter seinem Blick schämte sie sich fast ihrer blassen Wangen und ihres einfachen, hässlichen Kittels. »Der Meister lässt mich hart arbeiten. Er ist nicht schlecht zu mir oder ungerecht, das nicht. Aber sechs Tage in der Woche arbeiten wir vom Morgengrauen bis zum Abend. Am Freitag besuchen wir die Vesper, am Sonntag hält die Meisterin mich an, zweimal mit ihr zum Gottesdienst zu gehen. Da bleibt nicht viel Zeit, Herr David.«
»Herr David? Lucia, wie redest du! Warum nennst du mich nicht mehr beim Namen wie einen Bruder ...« David legte die Hände auf ihre Schultern, als wolle er sie schütteln.
Lucia entzog sich ihm lächelnd. »Ich hab nicht den Eindruck, als brächtest du mir brüderliche Gefühle entgegen!«, bemerkte sie dann. »David, du musst gehen! Wenn die Leute uns hier sehen, komme ich in Teufels Küche. Die Meisterin ist äußerst streng, und der Meister geizt mit jeder Minute, die ich keine Nadel halte!«
In Davids schöne Augen trat ein verletzter Ausdruck. »Magst du mich denn nicht, Lucia?«
Lucia überlegte. Doch, sie mochte ihn zweifellos. Und sein Anblick weckte Erinnerungen an bessere Zeiten. Auch seine Hände auf ihren Schultern hatte sie nicht unangenehm gefunden.
»Natürlich mag ich dich. Aber ...«
»Wenn du mich magst, müssen wir auch manchmal miteinander reden. Ich muss dich sehen, Lucia, ohne dich geht die Sonne für mich nicht mehr auf!«
Lucia lachte. »Dann frage ich mich, wie du es ohne Laterne hierhergeschafft hast!«, zog sie ihn auf. Aber dann wurde sie ernst, als er seine Hand ganz sanft, schüchtern und überaus behutsam an ihre Wange legte.
»Dein Licht hat mich geleitet ...«, sagte er heiser. »Du bist so wunderschön, Lucia! Aber du sagst gar nichts. Vermisst du mich nicht auch ein bisschen? Lucia ...«
Lucia fühlte sich beinahe peinlich berührt ob seines Flehens. Aber ja, er hatte recht. Sie vermisste ihn. Ihn und alle anderen im Hause der Speyers. Sie holte tief Luft.
»Ich vermisse dich sehr«, sagte sie - und hielt den Atem an, als er ganz scheu und leicht ihre Wange küsste.
Die Nächste, die um die Mittagszeit vor der Schneiderei des Meisters Friedrich wartete, war Lea. Und die Ausrede für ihr Kommen war noch weitaus besser als Davids. Sie brachte ein paar Teile ihrer Aussteuer mit und behauptete, dass niemand außer Lucia ihren Geschmack und ihre Maße gut genug kannte, um die Sachen für sie zu ändern.
Meister Friedrich runzelte darüber die Stirn. Er hatte nicht viele jüdische Kunden, aber er war auch nicht böse darüber. Die Handwerker der Stadt mochten die Juden nicht, nur ihr Geld nahmen sie gern. Das gab auch jetzt den Ausschlag. Wenn diese Judengöre unbedingt mit seinem Lehrling herumkichern wollte, so überließ er ihr bereitwillig das Feld. Schließlich konnten die beiden ja nichts anstellen. Und seine Frau würde ein Auge auf sie haben, während er seiner Mittagsruhe frönte! Gnade Lucia Gott, wenn sie plauderte, statt zu nähen! Und natürlich würde er den Speyers einen saftigen Preis berechnen!
»Dann mach dich an die Arbeit, Lucia«, meinte er unfreundlich und erhob sich, um zu Tisch zu gehen. »Und die Nuschen nähst du nachher auch noch an den Mantel für die Schefflerin.«
Er warf dem Mädchen ein paar Schnallen zu, bevor er endgültig ging.
»Und du kriegst nichts zu essen?«, fragte Lea ungläubig, als die Mädchen in der Nähstube allein blieben. Auch sie hatte bemerkt, dass die Freundin dünner geworden war. »Schlägt der sich ganz allein den Bauch voll?«
Lucia zuckte die Achseln. »Gewöhnlich bringt die Meisterin mir was in die Werkstatt. Heute wahrscheinlich erst später, wenn du gegangen bist. Aber jetzt erzähl! Wie verläuft die Verlobungszeit? Hast du Juda schon gesehen? Allein womöglich?«
Erst jetzt, da sie Lea wiedersah, bemerkte sie, wie schmerzlich sie deren fröhliches, beinahe kindliches Geplauder vermisst hatte. Lea sah im Übrigen
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