Die Pestärztin
und die Wormserin nach Hause. Agnes rief Al Shifa auch noch einen Gruß zu und gab ihr einen Kupferpfennig. Die Maurin bedankte sich und nickte Lucia zu.
»Viel Glück, mein Kind ...«, flüsterte sie, als Lucia verschwand. Wer wusste, ob sie einander wiedersehen würden. Es war, wie der Mann gesagt hatte: In den Christenvierteln breitete die Pest sich meist schneller aus.
Der Wärmeeinbruch im Herbst war ein letztes Aufglühen des Sommers gewesen - sehr zur Freude der Weinbauern, die sich reichen Ertrag und gute Qualität ihrer Weine erhofften. Die für die Lese zuständigen Heiligen waren zumindest gnädig, doch als die Reben ihrer Früchte beraubt wurden, schlug der Winter zu. Mainz erlebte einen kalten, aber nicht allzu nassen November und Dezember, und die Geistlichkeit hoffte, dass die Seuche dadurch zum Abflauen gebracht wurde. Meister Wormser schwor darauf, dass die Kälte die bösen Winde aus dem Körper trieb, und schleppte sein Söhnchen jeden Tag durch Schnee und Eis an den Rhein, um reine Luft zu atmen. Lucia glaubte nicht daran. Schon dem »Handbuch« Ar-Rasis entnahm sie, dass weder Kälte noch Hitze die Pest aufhielt. Sie meinte auch, sich aus dem Kanon an ein paar Bemerkungen zu erinnern. Man sollte die Ratten im Haus bekämpfen - und das tat sie dann auch, obwohl es nicht einfach war. Auch die Tiere drängten aus den eisigen Abwässerkanälen in die warmen Häuser und Speisekammern. Lucia wies Trudchen an, zumindest alles an Lebensmitteln wegzuwerfen, das trotz aller Vorsichtsmaßnahmen von Ungeziefer angebissen oder verschmutzt war. Natürlich tat das Mädchen nicht wie geheißen, sondern ließ die Sachen für seine Familie mitgehen. Lucia sagte nichts dazu. Sie hatte der Küferin oft genug die Pest an den Hals gewünscht. Dennoch war sie entsetzt - und fühlte sich auch ein wenig schuldig -, als Trudchen eines Tages weinend ins Haus der Wormsers kam. Ihre Mutter und zwei ihrer Brüder waren erkrankt.
Lucia wies das Mädchen strengstens an, sich mit Wein abzuwaschen und im Haus der Wormsers zu bleiben. Sie selbst würde bei der Küferin nach dem Rechten sehen. Herzklopfend verließ sie das Haus ihrer Herrschaft. Agnes würde ihr Vorwürfe machen, wenn sie davon erfuhr - auch die kluge Kaufmannstochter wusste, dass man Pesthäusern besser fernblieb. Doch alles in Lucia sträubte sich dagegen, die Familie einfach so sich selbst zu überlassen. Gut, die Küferin hatte sich nie um sie verdient gemacht. Aber sie hatte sie doch jahrelang beherbergt, ihre Kinder waren neben ihr aufgewachsen ... Lucia konnte nicht anders, sie fühlte sich verantwortlich. Zitternd betrat sie schließlich die Bude, in der die Küfers hausten. Sie fand ein weitgehend von den Ratten verlassenes Schiff vor.
Die Küferin lag jammernd auf einem Strohsack. Ein Stück von ihr entfernt drängten sich die zwei kleinen Jungen zusammen. Das jüngste Mädchen war zwischen den Strohsäcken zusammengebrochen und wimmerte nur schwach; das kleinste Kind schließlich, kaum ein Jahr alt, lag reglos in seinem Korb. Der Gestank im Raum war bestialisch. Mindestens einer der Kranken musste sich entleert haben.
»Grietgen?«, fragte die Küferin. Sie schien abgemagert, doch ihr Gesicht glühte, und die Arme hielt sie von sich gespreizt. Lucia sah die unter den Achseln quellenden Beulen. »Bist doch gekommen, gutes Kind!«
Lucia sah keinen Anlass, die Verwechslung richtig zu stellen. Die Küferin war nicht mehr bei sich; das Fieber hatte ihren Geist verwirrt.
Einer der kleinen Jungen war noch eher ansprechbar. »Lucie«, murmelte er. »Was ein schönes Kleid du hast ...«
Lucia versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern.
»Peterchen«, sprach sie ihn schließlich an. »Was ist los mit euch? Wie fing das an? Seit wann seid ihr krank?«
»Der Volker hat sich vor drei Tagen hingelegt«, gab der Kleine mit heiserer Stimme Auskunft. »Und dann ist das Mariechen gestorben ...«
»Das Mariechen ist tot?« Lucia stand erschrocken auf und ging zu dem Korb des Säuglings. Sie streichelte dessen wachsbleiche Wangen. Sie waren kalt.
»Die Mama hat geweint, aber dann war sie auch krank. Und ich auch ... Muss ich sterben, Lucia?«
»Natürlich nicht!«, erklärte Lucia, obwohl sie sich da keineswegs sicher war. Aber bei Peterchen erschien ihr die wenige Hilfe, die sie leisten konnte, am aussichtsreichsten. Sie holte Wasser vom Brunnen, wusch den Kleinen von Kopf bis Fuß ab und reinigte auch die Küferin und den kleinen Volker. Beide husteten
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