Die Pestärztin
Dennoch verwandelte die Stadt sich immer mehr in einen Hexenkessel, und im Umland sah es nicht anders aus.
Lucia beobachtete mit Verwunderung, dass die Mainzer Christen einerseits von größter Reue über ihre Sünden erfasst wurden und daher eine Bittprozession nach der anderen anstrengten. Andererseits ließ man jede Nächstenliebe vermissen, selbst gegenüber den engsten Angehörigen. Die Haltung Grietgens und Trudchens - zunächst ein Einzelfall - griff immer weiter um sich. Die Menschen pflegten erkrankte Familienangehörige nicht mehr, sondern ergriffen kopflos die Flucht, sobald sie eine Pesterkrankung auch nur befürchteten. Die wenigen pflegenden Mönchs- und Nonnenorden kamen mit der Arbeit kaum nach, desgleichen die Totengräber. Die Toten wurden jetzt ohne Ansehen der Person in Massengräbern verscharrt; die Angehörigen zeigten auch kein Interesse mehr, Begräbnisse zu organisieren. Dazu hätten sie sich den Leichen ja zwangsläufig nähern müssen, und das fürchteten sie wie den Leibhaftigen. Es war auch kaum noch möglich, Priester aufzutreiben, die den Sterbenden die Sakramente erteilten. Nachdem zwei Ordensleute schneller an der Seuche verstorben waren als die Kranken, denen sie Beistand leisteten, verweigerten sich viele Geistliche selbst den verzweifeltsten Rufen.
Die Mönche und die wenigen Ärzte, die noch nicht vor der Krankheit geflohen waren, richteten schließlich Pesthäuser ein, in denen die Kranken gepflegt wurden. Im Grunde waren es Sterbehäuser; die Überlebensrate war erschreckend gering, was Lucia verwunderte: Nach dem Wenigen, das sie aus dem »Handbuch« und aus dem Kanon der Medizin wusste, starben sieben von zehn Menschen an der Beulenpest, in Mainz aber überlebte vielleicht einer von zwanzig. Wahrscheinlich, folgerte Lucia, waren die Heilmittel falsch, die von den Mönchen und Medizinern benutzt wurden. Besonders der Aderlass - als die ersten Patrizier von Mainz erkrankten, fanden sich noch Ärzte, die ihn fachgerecht durchführten - verursachte wohl eher ein schnelleres Dahinsiechen. Al Shifa hatte oft gesagt, dass er die Kranken schwäche. Am ehesten noch überlebten die Patienten der Karmeliterinnen, die meist kaum etwas anderes taten, als die Kranken sauber zu halten und ihnen Kräuteraufgüsse, Wasser und Wein einzuflößen.
In Anbetracht der offenbar steigenden Ansteckungsgefahr riet Lucia ihrer Herrschaft ab, am Sonntag zur Messe zu gehen. Besonders Agnes und die Kinder hätte sie am liebsten im Haus behalten und mit aromatischen Dämpfen behandelt. Der Papst, so erzählte man sich, hätte die Zeit der Pest in Avignon zwischen zwei großen Feuern verbracht, die in seinen Gemächern brannten, und in denen er pausenlos Weihrauch verbrannte, um den Teufel fernzuhalten. Das hatte ihn denn auch geschützt; der oberste Hirte war wohlauf.
Agnes weigerte sich jedoch, es ihrem Kirchenfürsten nachzumachen.
»Wir Bürger müssen den Leuten ein Vorbild sein!«, erklärte sie. »Wir dürfen uns nicht verstecken, sondern müssen unsere Frömmigkeit zeigen und unser Gottvertrauen. Ansonsten bricht hier bald alles zusammen. Wenn die Menschen nicht mehr in die Kirchen gehen, verlieren sie jeden Halt.«
Lucia war es eigentlich egal, ob Leute wie die Küfers noch mehr in die Gottlosigkeit abrutschten, und sie glaubte auch nicht, dass Agnes' verzweifeltes Festhalten an der letzten Normalität die sich häufenden Diebstähle und Überfälle verhindern konnte. Die Straßen der Stadt wurden zunehmend unsicher. In den ärmeren Vierteln wütete die Pest besonders grausam, und die Büttel trauten sich oft nicht mehr dorthin, um Strauchdiebe zu verfolgen. Die Gauner selbst hatten nichts mehr zu verlieren. Oft waren ihre Familien bereits gestorben, sie selbst fühlten die Pest kommen und wollten nun wenigstens noch mal genug Geld zusammenrauben, um mit vollem Bauch vor ihren Schöpfer treten zu können. Ob der Weg dorthin dann letztlich über einen schmutzigen Strohsack im Pesthaus führte oder über den Galgen, war ihnen egal. Lucia konnte diese Haltung fast verstehen, hatte sie den Hunger doch ebenfalls kennen gelernt. Aber leider suchten die Galgenvögel auch fleischliche Lust, wo immer sie eines weiblichen Wesens habhaft werden konnten. Lucia erschrak, als sie von der Schändung einer der Hebammen hörte. Dann aber traf sie Al Shifa beim Dom. Es gelang ihr, drei heimliche Worte mit der tief verschleierten und in wahre Wolken von Kräuterduft gehüllten Maurin zu sprechen. Die
Weitere Kostenlose Bücher