Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
Vom Netzwerk:
Hitze ... « Inzwischen war es Oktober geworden, aber seit einigen Tagen glühte die Sonne trotzdem noch unbarmherzig über der Stadt.
    Agnes nickte. »Das habe ich auch gehört. Es ist, als reise die Seuche. Mein Vater erzählte, sie sei im vorigen Jahr in Marseille gewesen, davor in Konstantinopel. Danach erfasste sie Italien und Frankreich. Aber was nutzt es uns, wenn wir uns jetzt drücken? Johann wird doch da sein; er muss mit der Zunft gehen. Und wenn Menschen die Krankheit herumtragen, könnte auch er sie uns bringen ...«
    Der Gedanke war der Wormserin offensichtlich unerträglich. Immerhin war in ihrer Straße und auch in der Zunft der Zimmerleute bislang noch niemand gestorben. Schließlich zogen die Frauen sich an und wanderten langsam zum Sammelplatz der Prozession. Sie konnten ein paar Straßen mitgehen und ein paar Lieder singen, aber dann würde Agnes sicher niemand verübeln, wenn sie sich in ihrem Zustand nach Hause begab.
    Tatsächlich hatten sich schon Hunderte vor St. Quintin versammelt, und auch aus anderen Kirchen wurden Heiligenstatuen gebracht und durch die Stadt getragen. Der Pfarrer von St. Quintin förderte sogar eine kleine Statue des Pestheiligen St. Rochus zutage, die bislang wohl in irgendeiner versteckten Nische der Kirche ein Schattendasein führte. Nun trug der Geistliche sie triumphierend allen voran, während die Chorherren Bittgesänge intonierten. Der Pfarrer ließ es sich auch nicht nehmen, seine Schäfchen zunächst durchs Judenviertel zu lotsen, dessen Bewohner sich ängstlich in ihre Häuser zurückzogen. Lucia senkte den Kopf, als sie in die Schulstraße einbogen und die Synagoge passierten. Sie wusste, dass die Juden nicht in erster Linie die Pest fürchteten, sondern vielmehr die Wut dieser Hunderte von ängstlichen Christenmenschen. Auch jetzt schon munkelte man, ob nicht der Brunnen »Unter den Wollengaden« vergiftet gewesen sei. Da gab es schließlich kaum Juden; das Schneiderhandwerk ergriffen sie selten. Und war da nicht etwas gewesen, mit den Schraders und einem Judenliebchen?
    Bislang gab es auch noch keine Toten unter den Juden von Mainz - ein beinahe untrügliches Zeichen, fand Meister Hermann, dass die Hebräer hier ihre Hände im Spiel hatten.
    Lucia sorgte sich um Lea, aber dann zog Agnes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die junge Frau hatte sich schon in den letzten Minuten auf sie gestützt, aber jetzt schwankte sie bedrohlich.
    »Ich kann nicht mehr, Lucia, ich muss mich setzen. Vielleicht ... ein Becher Wasser ...«
    Lucia sah sich hektisch nach einer Schenke um, oder nach einem ordentlichen christlichen Haus, an dessen Tür sie klopfen konnte. Das »Güldene Rad« war nicht fern, aber in dieser Straße wohnten nur Juden. Sie sah das Haus der Speyers - und musste Agnes in ihren Armen auffangen, als die junge Frau zu Boden sank.
    »Platz! Platz hier, jemand ist ohnmächtig geworden!«
    Der Mann hinter Lucia und Agnes machte noch einen recht vernünftigen Eindruck, aber schon die alte Frau neben ihm zeigte furchtsame Augen.
    »Bei Gott, es ist die Pest! Der Teufel schlägt hier mitten zwischen uns zu!«
    Lucia bemühte sich inzwischen um ihre Herrin, ebenso eine andere Frau.
    »Ach was, Gevatterin, das sind nur das Kind und die Hitze ...«, meinte sie ruhig, während Lucia versuchte, Agnes von ihren Schnüren zu befreien, ohne ihre Brust zu enthüllen. Die Frau fächerte ihr dabei Luft zu.
    Doch der Ruf »Die Pest!« hatte sich bereits verbreitet. Die Menschen um Agnes herum wichen zunächst ängstlich zurück, aber dann drangen andere von hinten nach.
    »Wo ist der Kranke?«
    »Dort hinten!«
    »Nein, hier vorn!«
    »Man sagt, es sind zwei ...«
    »Nein, ein ganzer Trupp soll es sein, alle plötzlich umgefallen.«
    »Blut ...«
    »Zuckungen!«
    »Weg hier!«
    »Und entledigt euch der Verdammten!«
    Lucia hörte unsinnige Rufe, Aufforderungen und Wortfetzen. Dabei schloss die Menge sich bedrohlich um sie herum, eigentlich waren es nur noch der kräftige Mann von eben und die ältere Frau, die ihr Hilfe leisteten.
    »Wir müssen sie auf die Beine bringen, hier treten sie uns sonst tot!«, meinte die Frau und zerrte Agnes hoch. Lucia half ihr. Agnes kam auch langsam wieder zu Bewusstsein, aber sie war zu schwach, um selbstständig vorwärtszukommen. Zum Glück schuf ihnen der Hüne von Mann einen Weg durch die Menge, in der inzwischen auch Lynchrufe aufkamen: gegen mögliche Erkrankte, die der Teufel eingeschleppt hatte, gegen die Juden, in deren Viertel die

Weitere Kostenlose Bücher