Die Pestärztin
Hospizen der Mönche überhaupt noch willkommen war.
»So probiert es doch aus!« Lucia äußerte den ersten Gedanken, der ihr durch den Kopf schoss. »Das Haus der Wormser steht leer. Es gibt keine Erben, die Nachbarn sind zum größten Teil auch gestorben. Und wer will schon ein Haus, in dem alle der Pest erlegen sind? Wenn Ihr dort Kranke aufnehmen wollt, hätte ich nichts dagegen.«
Das war schon fast untertrieben. Wenn Lucia ehrlich sein wollte, so reizte es sie kaum minder als Clemens, die Pest zu erforschen.
»Ich will Ärztin werden, wenn ich groß bin ...« So ganz hatte der kindliche Wunsch sie nie verlassen. Und noch etwas kam hinzu: Lucia sehnte sich danach, Clemens von Treist nahe zu sein. Dabei war es kein Verlangen, kein lüsternes Sehnen, wie sie es einst beim Anblick von David Speyer empfunden hatte. Es war auch nicht nur das Alleinsein nach dem Tode der Wormser; an Einsamkeit war sie inzwischen gewöhnt. Aber die Gespräche mit Clemens füllten sie aus. Hier war endlich ein wacher Geist, mit dem sie ihre Gedanken teilen konnte. Mit Clemens zu reden war fast wie ein Gespräch mit Al Shifa - oder sogar noch reizvoller, weil Clemens neu und anders war. Es war aufregend, die eigenen Gedanken und Empfindungen in seinem Gesicht gespiegelt zu sehen. Seine Skepsis, manchmal sogar Aufbegehren gegen die allzu aufmüpfigen Gedanken einer Frau - und dann doch widerwillige Bewunderung.
Lucia wusste es zu schätzen, dass er sie niemals lüstern musterte. Beinahe ungewöhnlich in den Zeiten der Pest, in denen die guten Sitten immer mehr zerfielen. Kaum jemand ging noch regelmäßiger Arbeit nach; viel öfter suchten die bislang Überlebenden das pure Vergnügen. Während die Menschen in den Häusern starben, ergaben ihre Verwandten sich Tanz und billigen Tändeleien, beschliefen einander in Mauerecken oder Hinterhöfen, zogen betrunken und johlend durch die Straßen. Die hübsche junge Lucia war hier natürlich ein begehrtes Opfer all der Kerle, die noch keine Genossin für die Nacht gefunden hatten. Sie war froh, heute Clemens bei sich zu haben. Neben ihm konnte sie ruhig einhergehen, während sie die Gassen gewöhnlich im Laufschritt, gehetzt und voller Angst durchquert hätte. Wobei sie sich jetzt nicht einmal mehr sicher fühlen konnte, wenn sie das Haus der Wormser hinter sich schloss. Sobald das Gesindel auf den Straßen merkte, dass hier nur noch ein einzelnes Mädchen lebte, war mit Übergriffen zu rechnen. So gesehen war es auch ein Akt des Selbstschutzes, wenn sie ihr Haus jetzt Clemens und seinen Pestkranken öffnete.
Clemens verhielt seinen Schritt, als er ihren Vorschlag hörte.
»Das würdet Ihr tun?«, fragte er und sah ihr gerade in die Augen. »Aber seid Ihr Euch denn nicht der Gefahren bewusst? Wenn Ihr Pestkranke in Euer Haus holt ...«
»Es ist nicht mein Haus«, antwortete Lucia. »Und es ist bereits pestverseucht. Ich aber habe jetzt vier Pestkranke gepflegt. Mit der Küferin und ihren Kindern sind es sogar acht. Bislang habe ich mich nicht angesteckt. Der Teufel scheint mich nicht zu wollen!«
Clemens lächelte schwach. »Foppt ihn nicht!«, mahnte er sie. »Aber Ihr seid natürlich ein Beweis dafür, dass die Pest all jene verschont, die wahrhaft reinen Herzens sind!«
»Ich?« Lucia schüttelte verwundert den Kopf. »Das hat noch keiner von mir gesagt. Bislang nannte man mich eher ... aber vergessen wir das. Es hat ohnehin keinen Einfluss auf die Pest, zumindest sieht es nicht so aus. Aber ich weiß so wenig! Wenn ich nur mehr über diese Krankheit wüsste!« Lucia lockerte ihren Schleier. Es war glühend heiß in den Straßen, und sie wünschte sich nichts mehr, als sich von dieser Vermummung zu befreien. Clemens in seinem Wachsmantel musste es noch schlimmer ergehen. Aber er würde schon seine Gründe dafür haben, dass er sich dem Spott der Stadt in dieser Verkleidung aussetzte. »Erzählt mir von der Pest, Medikus von Treist!«, forderte sie ihn auf. »Ich möchte alles erfahren, was man darüber lehrt!«
Lucia bestand darauf, in der nächsten Schenke eine Gallone alten Rotweins zu erstehen. Dann nahm sie Clemens mit ins Haus der Wormser und brachte Essen und Wein in den Hof bei der Werkstatt. Lucia mochte nicht ins Haus gehen; darin stand noch zu sehr der Odem des Todes - und die Hitze des Augusttages.
»Es hat noch längst nicht elf geschlagen«, bemerkte sie und bot ihm den Platz auf der groben Holzbank an, die Meister Wormser vor der Werkstatt für seine Gesellen
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