Die Pestärztin
aufgestellt hatte. In glücklicheren Zeiten hatte Lucia den Jungen hier Bier ausgeschenkt und mit ihnen gescherzt. Nur nicht daran denken ...
Lucia schnitt Brot auf. »Sofern Ihr also daran glaubt, dass Euch die Pest erwischt, wenn Ihr vor Dunkelwerden zur Nacht esst, müsst Ihr warten.«
Lucia selbst griff hungrig zu. Sie hatte in den letzten Tagen die vielfältigsten Leckereien gekauft und gekocht, um Meister Wormser doch noch zum Essen zu überreden. Selbst hatte sie dabei nie Appetit gehabt. Es war zermürbend zu sehen, wie ihr Patient sich aufgab. Aber jetzt kehrte der Hunger zurück. Lucia biss ungeniert in einen Hühnerschenkel und leckte sich die Sauce vom Kinn. Honig und Gewürze - ein maurisches Rezept.
Clemens nahm sich den zweiten Schlegel.
»Nein, daran glaube ich nicht«, gab er Auskunft. »Ich weiß auch nicht, wie diese Geschichten aufkommen. Gestern hörte ich, es sei gefährlich, die Fenster nach Süden zu öffnen. Und hier in Eurem Beisein bin ich sowieso in Gefahr: Am Sonntag predigte der Pfarrer von Sankt Stephan, die Seuche werde von der Schönheit junger Mädchen angezogen!«
Lucia lachte gezwungen. Es klang beinahe wie Tändelei. Doch Clemens' Lächeln dabei war anziehend. Sie reichte ihm noch einen Hühnerflügel.
»Was glaubt Ihr denn?«, fragte sie. »Oder besser gesagt, was weiß man sicher?«
Clemens zuckte die Schultern. Er ließ das Hühnerbein erst einmal liegen, nahm aber einen Schluck Wein und lehnte sich zurück. Endlich hatte er den Wachsmantel auch zumindest geöffnet und enthüllte einen schlanken Körper in schlichter, dunkler Kleidung. »Nun, die Wissenschaft nennt die Krankheit ›Pestis bubonis‹ oder ›Morbus inguinarius‹. Hippokrates und Galen erklären sie mit einer Fehlmischung der Körpersäfte, Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Man nimmt an, sie würde durch Miasmen, durch faul riechende Winde verbreitet ... «
»Und wo kommen die her, die faul riechenden Winde?«, erkundigte sich Lucia. Auch sie trank jetzt einen Schluck Wein, was sie beflügelte. Es war heiß, und sie löste endlich das Tuch, das ihr Mundschutz geboten hatte, jetzt aber um ihren Hals lag. Sie fächelte sich Luft zu.
Clemens kam kurz aus dem Konzept, als er der zarten weißen Haut in ihrem Ausschnitt gewahr wurde: Lucia trug das weit ausgeschnittene Kleid, das Agnes ihr in glücklicheren Zeiten geschenkt hatte.
Dann aber besann Clemens sich wieder auf seinen Vortrag. »Aus dem Erdinneren, meinte Galen. Oder über den Südwind aus den Ländern der Ungläubigen, die Gott damit strafen wollte. Aber die medizinische Fakultät von Paris nimmt eine astrologische Erklärung an. Am zwanzigsten März 1345 gab es eine ungünstige Dreierkonstellation aus Saturn, Jupiter und Mars.«
»Glaubt Ihr das?«, fragte Lucia erneut.
»Möglich ist es«, gab Clemens zur Antwort. »Aber mich interessiert eigentlich gar nicht, woher die Pest kommt. Ich will sie gehen sehen! Und was das betrifft, kann ich Euch bislang nur die Maßnahmen aufzählen, die nicht helfen. Ein Heilmittel hat noch keiner erfunden. Oder steht doch etwas bei Rhases?«
Lucia schüttelte den Kopf. »Nicht in dem Buch, das ich gelesen habe. Aber ich glaube, zurzeit des Ar-Rasi hat es keine Pestilenz im Morgenland gegeben ...«
»Aber das würde allen bisherigen Ergebnissen widersprechen! Es heißt, sie käme gerade ...«
»Lasst mich aussprechen!«, mahnte Lucia ernst. Ihre Wangen waren dabei von Wein und Eifer gerötet. Clemens bemerkte erstmalig, wie schön sie war. »Zu Ar-Rasis Zeiten gab es wie gesagt keine ›Pestis Bubonis‹ in seinem Land. Wohl aber zu Zeiten Ibn Sinas! Ich weiß, dass sein Kanon der Medizin ein Kapitel über die Seuche enthält.«
Clemens vergaß sofort alle äußerlichen Vorzüge seines Gegenübers. Stattdessen erwachte sein wissenschaftlicher Jagdeifer. »Und wo ist dieser Kanon? Kann man ihn einsehen? Habt Ihr ihn gelesen? Gibt es ihn auf Latein, oder ist er nur in dieser seltsamen Schrift zu lesen, die aussieht, als wollte man Keramik damit verzieren? Woher könnt Ihr das überhaupt? Woher habt Ihr das Buch des Ar-Rasi, und wer hat Euch seine Sprache beigebracht?«
Lucia lächelte. Und dann erzählte sie zum ersten Mal einem Fremden von ihrer Kindheit bei den Speyers und ihrer Pflegemutter Al Shifa.
»Al Shifa, die einen Schatz hütet«, seufzte Clemens schließlich. »Da liegt ein Kodex, der vielleicht die Lösung dieses Rätsels bildet, im Haus eines Juden. Und wir kommen nicht
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