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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Jordan
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Gefühl, als verweigerten sie ihr den Respekt, als Clemens schließlich den Kanon des Ibn Sina holte und Lucia erneut zu lesen und zu übersetzen begann. Al Shifa schien die Worte zu verstehen. Als Lucia zwischendurch kurz innehielt, drückte sie ihre Hand.
    Die alte Maurin starb bei Sonnenaufgang des folgenden Tages. Das erste Licht hüllte das Zimmer in ein sanftes Leuchten, und Lucia lächelte ihr zu, als sie noch einmal die Augen aufschlug.
    »Lucia«, flüsterte Al Shifa. »Das Licht!«
 
    Lucia weigerte sich, ihre Pflegemutter den Totengräbern zu überlassen.
    »Sie werden sie niemals mit dem Gesicht nach Mekka betten und ihren Körper mit Tüchern bedecken. Und auch wenn ich sie jetzt wasche, sie würden sie doch wieder beschmutzen ... Und überhaupt will ich sie nicht in einem Grab, das ein Priester segnet. Sie hätte das gehasst!«, erklärte Lucia.
    »Aber was machen wir dann?«, fragte Clemens ratlos. »Wir können sie doch nicht selbst begraben.«
    »Warum denn nicht?«, fragte Lucia mutig. »Wir laden sie heute Nacht auf einen Karren und bringen sie auf den Judensand. Die Juden werden schon nichts dagegen haben, dass ...«
    »Ausgeschlossen, Lucia! Wenn jemand uns sieht! Stell dir nur vor, zwei Pestärzte buddeln auf dem Judenfriedhof ...«
    »Dann begraben wir sie hier«, bestimmte Lucia. »Im hinteren Hof, gleich hinter der Werkstatt. Da kommt doch fast nie jemand hin. Außer uns wird es keiner wissen. Wir brauchen nicht mal einen Stein auf das Grab zu legen. Den Muslimen ist das nicht so wichtig. Wir machen es heute Nacht ...«
    Clemens sah sie gequält an. »Lucia, wir sind selbst schon darauf gekommen, und Ibn Sina schreibt es auch: Man soll die Leichen wegschaffen, so weit wie möglich, und sie am besten verbrennen. Und da willst du ...«
    »Wir werden das Grab so tief schaufeln, wie es nur geht. Dann werden wir sie mit Erde bedecken und darüber eine Schicht glühende Kohlen werfen. Das ist mehr, als die Totengräber tun. Du musst mir helfen, Clemens! Wenn nicht, tue ich es allein!«
    Clemens wusste, dass sie es allein niemals schaffen würde, und so stand er mit dem Spaten im Hinterhof, als die Sonne unterging.
    »Hier ist Osten«, sagte er leise in die entgegengesetzte Richtung des letzten Lichtscheins. »Also werden wir das Grab in diesem Winkel anlegen.«
    Sie arbeiteten schwer. Allein das Ausheben der Erde dauerte Stunden. Zum Glück hatte es geregnet, und der Boden war hier auch nicht so festgestampft wie im vorderen Hof. Agnes hatte einen kleinen Küchengarten gepflegt, und Clemens hatte die früheren Beete für Al Shifas Grab ausgewählt. Hier war die Erde locker, und es würde sich auch niemand darüber wundern, wenn sie wirkte, als habe man sie umgegraben. Lucia konnte behaupten, sie wolle hier Heilkräuter anpflanzen, die sie in der Apotheke nicht erhielt.
    Schließlich betteten sie Al Shifa zur letzten Ruhe, wie der Islam es befahl, und führten auch Lucias selbst erdachte Sicherheitsmaßnahme mit den glühenden Kohlen durch. Vom Grab im Hinterhof ging nun keine Ansteckungsgefahr mehr aus. Was allerdings Lucia und Clemens anging ...
    »Wenn wir uns heute nicht die Pest geholt haben, bekommen wir sie nicht mehr«, murmelte Clemens, als sie endlich fertig waren. »Wir haben jeden Schutz vernachlässigt.«
    Lucia nickte. »Wir können nur auf Gott vertrauen. Vielleicht ist Allah ja einsichtiger als der Gott der Christen. Aber wir sollten uns wenigstens jetzt gründlich reinigen. Schaffst du es, noch ein paar Wassereimer zu tragen? Katrina und ich haben den Badezuber in die Werkstatt getragen. Ich kann Wasser erhitzen ...«
    Clemens warf ihr einen fragenden Blick zu, den sie unschuldig zurückgab. Doch als der Zuber schließlich mit dampfendem Wasser gefüllt war, auf dem getrocknete Rosenblätter schwammen, entledigte Lucia sich ganz selbstverständlich ihrer Kleider.
    »Worauf wartest du?«, fragte sie ruhig, während sie nackt in den Zuber stieg. »Das Wasser wird kalt!«
    Clemens lächelte. Dann schälte er sich ebenfalls aus seinem Obergewand. Zum ersten Mal sah sie seine Beine; das lahme Bein war dünner und schien schwächer als das gesunde. Aber sonst war Clemens' Körper stark und fest. Lucia betrachtete ihn gern. Und er schien sich im Anblick ihrer Reize völlig zu verlieren.
    »Wie schön du bist!«, sagte er andächtig.
    Lucia dachte an das Hohelied: »Siehe, meine Freundin, du bist schön ...« Wie oft sie gemeinsam mit Lea von diesen Worten geträumt hatte.
    »Siehe, mein

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