Die Pestärztin
Freund, du bist schön und lieblich. Mein Freund ist mir eine Traube von Zyperblüten in den Weingärten von En-Gedi.«
Sie flüsterte die Worte, und Clemens verschloss ihr den Mund mit einem Kuss.
In dieser Nacht wurden sie zu Mann und Frau.
8
D ie nächsten Monate brachten kein Abebben der Pest in Mainz. Auch den Winter und das Frühjahr über behielt die Seuche die Stadt fest in ihrem Würgegriff, und das Singen und Feiern der Totentänzer wetteiferte mit dem Klatschen der Geißeln auf den nackten Rücken selbsternannter Büßer und dem ständigen lauten Beten der Menschen, die ihr Heil immer noch in Prozessionen von einer Kirche zur anderen suchten.
Lucia und Clemens verlebten dennoch eine glückliche Zeit. Nach wie vor hatte sich keiner von ihnen angesteckt, und sie fanden große Freude an ihrem gemeinsamen Leben. Nachts lagen sie einander in den Armen und entdeckten die Freuden der Liebe jeden Tag aufs Neue. Lucia konnte sich gar nicht mehr vorstellen, was sie einst an Davids ungeschickten Küssen gereizt hatte. Dabei war auch Clemens kein allzu erfahrener Liebhaber. Immer wieder versicherte er Lucia, dass keine Frau vor ihr ihn wirklich gereizt hatte. Trotzdem mussten sich auf seinen Reisen Möglichkeiten ergeben haben, die er nutzte, und seine Lehrmeisterinnen waren sicher keine unschuldigen Jungfrauen gewesen. Auf jeden Fall wusste er, wie er Lucia erregen konnte, wie er sie sanft und in immer neuen Varianten zum Höhepunkt führte. Lucia folgte ihm willig und ohne jede Scham. Katrina und die anderen Helfer im Pesthaus wussten von ihrer Liebe und beobachteten lächelnd, wie schwer es ihnen fiel, sich morgens voneinander zu lösen, und wie oft sich auch im Alltag ihre Hände oder Lippen fast beiläufig fanden. Hauptsächlich waren die Tage der Ärzte jedoch der Pflege der Kranken gewidmet - und vor allem dem immer wiederkehrenden Reiz, die Rezepte des Ibn Sina an den Pestopfern zu erproben. Dabei stellten sich tatsächlich Erfolge ein: Senf- und Zwiebelumschläge brachten die Geschwüre schneller zum Reifen. Manchmal bewirkten sie aber auch eine stärkere Abkapselung, und schließlich gab Clemens Lucias Drängen nach und schnitt die Beulen auf. Sie versuchten sich dabei auch in einer Erstellung der Narkoseschwämmchen, aber die Zubereitung mit Bilsenkraut und Wicken linderte die Schmerzen der Kranken kaum.
»Das Wichtigste muss dieses Haschisch sein«, bemerkte Lucia, nachdem wieder ein Patient während der Öffnung der Beulen das Bewusstsein verloren hatte. Dies war oft eine Folge der Schmerzen bei der Operation, und obwohl es Clemens die Arbeit erleichterte, sah Lucia es ungern. Schon zweimal waren die ohnehin geschwächten Kranken dabei an Herzschwäche gestorben. Lucia machte sich dann Vorwürfe, obwohl sie wusste, dass die Öffnung der Beulen ohnehin die letzte Chance für die Kranken gewesen wäre. »Wenn wir bloß wüssten, wo das Zeug wächst!«
»Ich habe die Apotheker gefragt und die Juden am Rhein«, meinte Clemens. »Aber keiner wusste Genaueres über das Kraut. Es muss aus dem tiefsten Orient stammen. Der Apotheker bei der Gotthardkapelle murmelte etwas vom Stein der Weisen.«
»Der Apotheker bei der Gotthardkapelle ist ein Dummkopf!«, sagte Lucia kühl. Sie hatte dem Mann die Sache mit dem Theriak immer noch nicht verziehen. »So geheimnisvoll kann es nun auch wieder nicht sein, denn Ibn Sina erwähnt es immer wieder. Anscheinend stand es ihm in beliebigen Mengen zur Verfügung. Vielleicht ist es bloß eine Frage der Übersetzung. In unserer Sprache gibt es sicher ein einfaches Wort dafür, aber ich kenne es nicht. Wenn nur Al Shifa noch lebte ...«
Lucia vermisste ihre Pflegemutter schmerzlich bei der Übersetzung des Kanons. Ihre arabischen Sprachkenntnisse stießen dabei nur zu oft an ihre Grenzen.
Die Lösung des Rätsels »Haschisch« kam dann zu Clemens und Lucias Verwunderung mit einem Mönch, der sich Anfang des Sommers im Pesthaus einfand. Bruder Caspar, ein hochgewachsener, einst sicher schwerer, heute aber durch Fasten und Selbstkasteiung hagerer und ernster Mann, bot sich als Krankenpfleger an. Clemens nahm ihn in Empfang und schaute eher misstrauisch, als er die Kutte der Franziskaner erkannte, die im Barfüßerkloster Kranke pflegten.
»Warum betätigt Ihr Euch denn nicht in Eurem eigenen Pesthaus, Bruder?«, fragte Clemens streng. Die Mönche betrachteten die »Konkurrenz« der Pestärzte aus der Augustinergasse nicht immer wohlwollend. Mitunter munkelte man,
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