Die Pestärztin
die Zunge zu lösen, kredenzte Lucia den letzten, wirklich guten Wein, den Agnes noch eingelagert hatte.
»Es gibt eine Art Orden im Heiligen Land«, erzählte der Mönch schließlich. Der Wein schien auch die Erinnerung an die grauenvollen Bilder zu lindern, die bei der Erwähnung der Kämpfe vor ihm aufstiegen. »Sie nennen sich Haschaschini oder so ähnlich. Sie sind gefürchtete Kämpfer, denn sie gehen ohne jede Furcht in den Kampf.«
»Ist das nicht das Wesen der Tapferkeit?«, erkundigte sich Clemens. Er kannte den Krieg nur aus Ritterromanen, die er als Kind wohl ebenso gern gelesen hatte wie damals Lea.
Bruder Caspar sah ihn beinahe verächtlich an. »Junger Mann, das Wesen der Tapferkeit besteht darin, seine Angst zu überwinden. Wobei die Grenze zwischen Tapferkeit und Dummheit nach meinen Erfahrungen fließend verläuft. Aber diese Haschaschini kannten keine Furcht. Einige sagten, sie lebten enthaltsam und beteten viel, andere, sie widmeten ihr Leben nur dem Kampf. Wenn ihr Führer ihnen sagte, sie sollten sich ihr Schwert ins Herz stoßen, so taten sie das ohne zu zögern, ohne ein Gebet, ohne ein Gefühl in den Augen. Sie waren unheimlich. Ein jüdischer Arzt, den wir gefangen genommen hatten, verriet mir einmal, das läge an diesem Gemisch, das sie kauten oder rauchten. Haschisch.«
Lucia und Clemens sahen sich an. Ein Gemisch, das Angst betäubte. Das entsprach zwar nicht genau den Worten Ibn Sinas, aber es ging zumindest in die gleiche Richtung.
»Ihr habt einen arabischen Arzt gekannt?«, fragte Clemens begierig. »Und hat er Euch noch mehr erzählt?«
»Als die Haschaschini mit uns fertig waren, war er genauso tot wie die meisten anderen«, erklärte Caspar nüchtern. »Die machten da keine Unterschiede. Und ich, Gott verzeih mir, hab in ihre Augen gesehen und bin geflohen. Man kann mich einen Feigling nennen, aber ich bin am Leben.«
Lucia fand das eher vernünftig als feige, aber sie wollte mehr wissen.
»Und wo wächst dieses Haschisch? Nur in fernen Ländern?«
Der Mönch lachte. »Das ist ja das Teuflische. Ich weiß nicht, wie sie es herstellen, aber der Ausgangsstoff ist eine Pflanze, die Gott uns zum Segen geschaffen hat: Hanf. Sie wächst auch hierzulande.«
»Ja, aus den Fasern macht man Kleidung und auch Papier«, erklärte Lucia; schließlich war sie bei einem Schneider in die Lehre gegangen. »Und Stoffe aus Hanf machen weder tollkühn noch müde. Es müssen also andere Pflanzenteile sein. Was meinst du, Clemens? Die Wurzel?«
Clemens zuckte die Schultern. »Ich denke, dass Rätselraten nichts bringt. Wenn wir hier Hanffelder hätten, wäre es etwas anderes; dann könnten wir Versuche anstellen. Aber so? Wir müssten die Pflanzen wohl erst aussäen. Rund um Mainz kenne ich jedenfalls keinen Hanfbauern. Aber es gibt einen jüdischen Arzt, in der Schulstraße. Wenn dessen Glaubensbruder im Orient etwas wusste, ist auch er vielleicht eingeweiht. Und zumindest bis gestern war er noch am Leben. Ich werde hingehen und ihn fragen.«
»Aber du kannst nicht ...« Lucia erschrak. Christliche und jüdische Mediziner hielten sich dünkelhaft voneinander fern. Auch und gerade in den Zeiten der Pest. Allerdings kam es immer wieder vor, dass reiche Christen sich der Hilfe jüdischer Ärzte versicherten. Oft hatten die ihre Kunst im Orient erlernt oder dort zumindest mehr aufgeschnappt, als an den Universitäten von Paris und Montpellier gelehrt wurde.
»Und ob ich kann. Ich bin sogar bereit, mir dazu einen Mantel mit Judenring umzulegen. Denk mal nach, Lucia. Kein Mensch hier in Mainz kennt mein Gesicht! Ich gehe ungefährdet als jüdischer Kaufmann durch!« Clemens begeisterte sich für den Gedanken.
»In Mainz ist zurzeit kein Jude ungefährdet!«, gab Lucia zurück. »Du weißt, wie die Stimmung ist. Sie wird irgendwann überkochen!«
Mit der ersten Sommerhitze war die Pestepidemie erneut aufgeflammt. Obendrein mit einem Schwerpunkt im Judenviertel. Natürlich erkrankten die Hebräer auch an der Seuche, aber das schien den fanatischen Christen kaum aufzufallen. Die Juden sorgten schließlich selbst für die Beerdigungen und die Betreuung ihrer Kranken, und sie zeigten sich im Verlauf der Seuche eher seltener auf der Straße als häufiger. Bußprozessionen waren ihnen ebenso fremd wie Totentänze.
»Ich muss es aber wissen!«, beharrte Clemens. »Wenn wir diesen Hanfextrakt hätten ...«
»Wenn wir Flügel hätten, könnten wir fliegen«, bemerkte Bruder Caspar. »Ergebt Euch in
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