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Die Pestglocke

Die Pestglocke

Titel: Die Pestglocke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Dunne
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nachträglich überzeugt, dass ich kein einziges Mal geblinzelt habe, während ich beobachtete, was sich vor meinen Augen buchstäblich auftat.
    Wie bei der Metamorphose von der Puppe zum Schmetterling war aus der Statue ein völlig anderes Wesen geworden. Die Innenflächen der nunmehr zu einem Triptychon aufgeklappten Abschnitte der Skulptur waren in lebhaften Farben auf goldenem Hintergrund mit zahlreichen Figuren bemalt -Männer, Frauen und Kinder; die verschiedenen Schattierungen von Rot, Blau, Gelb, Purpur und Gold erinnerten an die schillernde Regenbogenpalette eines Pfauenauges. Beide Personengruppen blickten nach innen, in Richtung des größeren Mittelabschnitts, der für sich allein ein Meisterwerk mittelalterlicher Holzschnitzkunst war.
    Hals und Kopf der Madonna ruhten auf einer weiteren, etwas schlankeren Darstellung ihres vergoldeten Oberkörpers. Der untere Teil des Halses hing nicht über diese innere Version ihres Köpers, weil sich, wie ich nun bemerkte, das geschwungene Holz der äußeren Flügel so fein abgestimmt verjüngte, dass es flach auf der inneren Skulptur auflag, um im geschlossenen Zustand den oberen Teil ihres Gewands zu bilden.
    Beginnend am Brustbein gab es einen Hohlraum im Innern des Madonnenkörpers, in den sich eine weitere Figurengruppe schmiegte, die etwa ein Drittel der Größe der äußeren Statue besaß. Die zentrale Figur war ein sitzender, grauhaariger Mann mit langem Bart und goldenen Gewändern.
    An einem der Lichtstrahlen, die aus seinem Kopf drangen, war eine kleine weiße Taube im Flug befestigt. Die Hände von Gottvater waren ausgestreckt und zeigten auf die Balken eines Kreuzes, an dem sein Sohn, der gekreuzigte Christus, hing.
    Auf diese Gruppe im Mittelstück – die Dreifaltigkeit – richtete sich die Aufmerksamkeit aller Figuren, die in den beiden Seitentafeln standen und knieten, und ich sah an ihren Stöcken und Krücken sowie an den Herzmuschelsouvenirs an ihren Hüten und Umhängen, dass es Pilger waren. Und als ich ein Stück von dem Triptychon zurücktrat, bemerkte ich auch, dass die vergoldeten Arme der Muttergottes als Relief auf den Innenseiten weiterliefen und in ihren gespreizten, fleischfarbenen Händen endeten – eine Geste, die alle darunter abgebildeten Pilger einschloss und beschützte. Es war Maria in ihrer Rolle als Mater Misericordiae, als Mutter der Barmherzigkeit, die uns »Pilgerseelen auf Erden« zur Dreifaltigkeit leitete.
    Das war die Vorderansicht; die Rückseite des Triptychons zeigte das Jesuskind nun widersinnig an einer der Tafeln hängend und war deshalb ungeeignet zur Betrachtung. Die offene Version war also dazu gedacht, auf einem Altar zu ruhen, aber nicht als Teil eines Altarbilds – es war das Altarbild. Bei bestimmten Gelegenheiten – etwa wenn die Statue an Marienfesttagen in einer Prozession durch die Straßen getragen wurde – klappte man die Flügel zu.
    Die Skulptur vor mir war das, was man als Schreinmadonna oder im Französischen als Vierge
    Ouvrante bezeichnete. Nicht einmal fünfzig von ihnen haben überlebt, und ich wusste von einer einzigen weiteren, die Maria beim Stillen ihres Kindes zeigte, und das war eine kleine, nur für die private Andacht hergestellte Figur. Die meisten Schreinmadonnen werden sitzend dargestellt, ein Grund, warum ich nicht vermutet hatte, es könnte sich bei der Skulptur um eines dieser seltenen Werke sakraler Kunst handeln. Sie verdanken diese Seltenheit teilweise ihrer umstrittenen Symbolik, die sie zum vorrangigen Ziel der Zerstörung durch reformatorische Bilderstürmer machte und sie auch in der katholischen Kirche aus der Mode kommen ließ. Geschlossen säugt sie das Kind, geöffnet wird aus dem Kind der Gekreuzigte. Der Körper der Muttergottes bietet dem Erlöser der Menschheit also den Leben spendenden Mutterleib und die Brüste, aber schickt ihn paradoxerweise auch auf den Weg zum Kreuz. Und aus theologischer Sicht noch wesentlich verdächtiger ist die Tatsache, dass sie als Mutter der gesamten Dreifaltigkeit dargestellt wird.
    Das erklärte vielleicht, warum die eingeborene irische Bevölkerung die Statue begrüßt hatte. Einem Volk, das früher eine Vorliebe für Göttinnen in dreifacher Gestalt gezeigt hatte, musste die Schreinmadonna gefallen. Sie war zugleich die Menschenmutter von Jesus, die göttinnengleiche Trägerin der Dreifaltigkeit und die fürsorgliche Mutter der gesamten Menschheit. Die Vorstellung, Maria unter so vielen Aspekten zu feiern, stand im Einklang mit

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