Die Pestglocke
versteckt«, sagte Muriel, nachdem wir die Statue ausführlich erörtert hatten und ich bei meiner zweiten Tasse Kaffee angelangt war. »Wieso? Was war los damals in Castleboyne? Erklären Sie es mir kurz.«
»Also gut, aufgepasst. Im Sommer 1348 herrscht heller Aufruhr, weil diese neumodische Statue in der Abtei aufgestellt werden soll. Eine Fraktion ist aus theologischen Gründen dagegen, eine andere, weil sie glaubt, sie würde, einmal installiert, die hochverehrte Ikone verdrängen. Auf der Seite der Befürworter stehen der Bischof, der Abt und wahrscheinlich die Mönche – und offenbar auch die eingeborene irische Bevölkerung. In dieser gespannten Lage kommen merkwürdig aufgemachte, ausländische Pilger in die Stadt, die sich dem Schrein nicht nähern und die Messen im Kloster nicht besuchen. Sie sagen, sie seien ebenfalls gegen die Statue. Ihre Gründe haben wahrscheinlich mehr mit den Kosten dafür zu tun als mit der verschlagenen Theologie dahinter – darauf komme ich später noch. Aber eine ohnehin instabile Situation gerät nun außer Kontrolle. Als Folge davon wird der Reliquienschrein samt Reliquie versteckt. Dann bricht die Pest aus. Die Besucher werden verdächtigt, sie in die Stadt gebracht zu haben, und ohne Zweifel werden ihre ketzerischen Überzeugungen entdeckt, was erst recht auf ihre Schuld hinweist. Dann sterben sie, wie so viele andere. Nach dem Abflauen der Pest werden die Fraktionen, die gegen die Statue gewesen waren, nicht daran gedacht haben, sie wieder ans Licht zu holen; sie behaupteten wahrscheinlich, die Pest sei verschlimmert worden, weil der neue Reliquienschrein unrechtmäßig den Platz der Ikone einnehmen sollte.«
»Hm. Faszinierend. Und wer oder was, glauben Sie, waren diese fremden Besucher?«
»Ich bin überzeugt, dass es Mitglieder einer Sekte waren, und es gibt eine, die genau passen würde – die Bruderschaft des freien Geistes. Ihr Einflussgebiet zu jener Zeit war das Rheintal sowie Flandern und Holland. Sie kleideten sich angeblich in lumpige, mönchartige Gewänder mit farbigen Flicken auf den Kapuzen und predigten gegen die Sakramente, reiche Schreine und Privatbesitz. Sie wurden außerdem beschuldigt, Gottesdienste zu stören und sich sexueller Freizügigkeit hinzugeben. Erinnern Sie sich an die Abzeichen, die wir bei den drei Leichen gefunden haben?«
»Wie könnte ich das vergessen.« Ich hatte Muriel gebeten, an dem Vortrag im Kulturerbezentrum mitzuwirken. Da ich die Skelette abhandelte, hatte sie sich bereit erklärt, anhand einer Powerpoint-Präsentation über die anderen Funde einschließlich der Abzeichen zu sprechen. Das Ergebnis war eine Mischung aus Erheiterung und Verlegenheit im Publikum gewesen, als Muriel, begleitet von Dias, tapfer die Artefakte in allen Einzelheiten erläuterte. Eines der Abzeichen zeigte eine Vulva, die einen Pilgerhut trug und einen Phallus als Stab. Auf einem anderen sah man drei Phallusse mit einer gekrönten Vulva hoch auf einer Prozessionstrage. Trotz ihrer derben Komik sollten die Abzeichen äußerste Respektlosigkeit gegenüber jenen beiden Dingen zum Ausdruck bringen, denen ihre Träger in Castleboyne mit Sicherheit begegnen würden: Pilgern und der Verehrung des Marienschreins.
Wie es nun schien, waren Kontinentaleuropäer ironischerweise sowohl für die Erschaffung des prächtigen Reliquienschreins wie auch seinen unrühmlichen Abgang aus der Öffentlichkeit verantwortlich. Aber hatten die zerlumpten Fremden, die im Sommer 1348 flussaufwärts fuhren, tatsächlich den Schwarzen Tod mitgebracht? Wir würden es nie erfahren.
Als Archäologin empfand ich große Genugtuung. Indem ich die Resultate sorgfältiger Ausgrabung mit archivarischen Belegen und sachkundiger Spekulation verwoben hatte, hatte ich eine faszinierende geschichtliche Episode rekonstruiert, und – wir standen erst am Anfang – es gab noch viel mehr zu erfahren. Aber als Amateurdetektivin erfuhr ich ein Deja-vu – es gab überall lose Enden, und ich hatte keine Ahnung, wie sie sich zu einem Muster knüpfen ließen. Und als Person von kleiner Statur, die gerade zwei Tassen Kaffee zusätzlich zu der einen mit Gallagher hinuntergeschüttet hatte, war ich jetzt ganz flatterig.
Das hatte eine unerwartete Nebenwirkung: Unfähig, das Unvermeidliche länger hinauszuschieben, brach ich auf, um Groot zu treffen. Da ich nicht noch einmal ins Hotel wollte, fuhr ich ins Krankenhaus; falls er bis jetzt nicht dort aufgetaucht war, würde er es bald tun.
Ich
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