Die Pestglocke
Weg ins Fitnessstudio. Genau dort gehört er jetzt hin, dachte ich, er sollte sich tüchtig ins Zeug legen und dann duschen und sich rasieren.
»Himmel, Illaun, was tun Sie denn hier?«, sagte er, als er mich sah. Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich bin ein bisschen verkatert.«
»Ich hole Ihnen ein Wasser«, sagte ich und ging zum Automaten. Er folgte mir und stürzte die ganze Flasche in einem Zug hinunter, als ich sie ihm gab.
»Gute Nacht gehabt?«, fragte ich.
»Ja, es gab ein kleines Besäufnis.« Er lächelte schwach. »Raten Sie mal, bei wem ich am Ende gelandet bin.«
»Ross Mortimer. Ich sah Sie heute Morgen in sein Zimmer gehen.«
Groot stöhnte. »O mein Gott, ja. Um welche Zeit war das?«
Ich antwortete nicht. Der Weingeruch in seinem Atem haute mich fast um.
»Wollen Sie in Ihrem Zustand allen Ernstes eine pathologische Untersuchung durchführen?«
Groot erhob sich zu voller Größe und sah beleidigt aus. »Dann machen Sie es doch, Madam Sauber. Ich würde gern Ihre Reaktion sehen, wenn sie den Geruch in die Nase kriegen.« Er stürmte durch die Schwingtür in den Krankenhausflur.
Ich war nicht gekränkt. Eigentlich war es eher komisch, bei allem Ernst. Was sollte ich tun? Vermutlich wusste Gallagher von Groots Hang zum Alkohol, aber er hatte nichts an seiner Arbeit auszusetzen, sonst wüsste ich es. Ein ausländischer Expolizist, der zeitweilig mit den Befugnissen eines staatlichen Pathologen ausgestattet wurde, wäre das geborene Ziel für Nörgeleien, wenn nicht sogar offene Ablehnung seitens der hiesigen Beamten. Aber die Berichte über ihn waren überschwänglich.
Vielleicht hatten wir uns alle bis auf Cora täuschen lassen. War sie wie der kleine Junge in der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern, der ausspricht, was alle anderen vorgeben, nicht zu sehen? Man konnte ihr kaum Puritanismus vorwerfen. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Groot war. Aber machte ihn das inkompetent?
Auf der Heimfahrt fragte ich mich, was mein Vater raten würde. In seinem Beruf war man gegenüber Alkohol vielleicht toleranter als in den meisten anderen, was nicht heißt, dass Schauspieler mehr trinken als der Rest der Bevölkerung. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es teilweise mit der Unsicherheit zu tun hat, die der Job mit sich bringt – sich ständig sagen zu müssen, dass man heute Abend zwar nur ein Lanzenträger war, aber letzte Woche dafür Hamlet, und nächsten Monat hoffentlich diese kleine Filmrolle bekommt, von der man zumindest die laufenden Rechnungen bezahlen kann. Und vielleicht hat es paradoxerweise auch mit der schieren Notwendigkeit zu tun, Abend für Abend absolut nüchtern auf die Bühne gehen zu müssen. Was Groot gerade tat – betrunken zur Arbeit gehen -, wäre für P.V. Bowe unmöglich gewesen, aber er hätte es eher toleriert als ich. Gewiss beklagte er die negativen Auswirkungen von Alkohol auf die Kreativität; aber er verstand auch, dass Trinken unvermeidlich mit den Künsten verbunden war. Mit einem typischen Lachen hätte er wahrscheinlich außerdem darauf hingewiesen, dass Groot schließlich keine Lebenden operierte, und wer wollte leugnen, dass sein Beruf extrem unangenehm war?
Die Gedanken an meinen Vater veranlassten mich, im Pflegeheim anzurufen, sobald ich zu Hause war. Er war schwächer, hielt aber noch durch. Sie hatten meine Mutter überredet, zu Tante Betty zu fahren und sich ein wenig auszuruhen. Ich hielt es für das Beste, sie nicht zu stören.
Ich schaute rasch ins Büro und sagte zu Peggy, ich würde sie am nächsten Morgen sehen. Beim Blick in den Badezimmerspiegel stellte ich fest, dass mein Gesicht in den letzten fünf Tagen etwa um dieselbe Zahl von Jahren gealtert war. Mein erster Impuls war, mich ins Bett fallen zu lassen und rund um die Uhr zu schlafen, aber er wurde sofort verdrängt von dem Bedürfnis, rauszugehen und etwas zu tun. Aber es wäre kaum angemessen gewesen, sich in Schale zu werfen und zu feiern, während mein Vater seinen letzten Atemzug machte. Und mir war auch nicht danach. Ich hatte den Wunsch, mich zu verändern, ein anderes Wesen zu werden, wie diese ungewöhnliche Statue im Kulturzentrum – immer noch ich, aber anders.
Du musst außerdem essen, Illaun. Essen! Ich hatte seit meinem kargen Frühstück nichts außer Kaffee zu mir genommen. Schlaf eine Stunde, dann lass dir was bringen. Das klang gut.
Ich angelte mir eine Banane aus der Obstschale und aß sie, damit ich etwas im Magen hatte.
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