Die Pestglocke
sagen? Ich schaute auf die Uhr. Es war viel zu spät, sie noch anzurufen. Und es war durchaus möglich, dass sie ohnedies Nachtdienst hatte. Ich würde so bald wie möglich mit ihr sprechen.
Ich schwang die Beine von der Couch, setzte mich auf und zog einen der Jasminstängel zu mir herab, um den vollen Duft einzuatmen. Finians Notizen lagen in einem unbeschrifteten Kuvert neben der Vase. Ansonsten war der Tisch übersät mit dem Inhalt meiner Umhängetasche, die ich vorhin ausgeleert hatte, um zu entscheiden, was ich in der geborgten Handtasche mitnehmen sollte – Lippenstifte, gekritzelte Memos an mich selbst, Quittungen, der beschriftete Schlüssel für das Heritage Centre, ein Päckchen Fruchtpastillen, von dem ich schon gar nicht mehr gewusst hatte, dass ich es besaß ... früher oder später würde ich das ganze Zeug aussortieren müssen, aber im Augenblick verlangte das Kuvert nach meiner Aufmerksamkeit.
Die Seiten begannen mit einer Bemerkung von Finian:
Verweise auf das Bildnis der Heiligen Jungfrau zu Castleboyne, ca. 1400-1550. Die Einträge umfassen rund dreihundert Jahre, ich habe deshalb beschlossen, mit einem Streifzug durch die zweite Hälfte dieser Zeitspanne zu beginnen – mit den hundertfünfzig Jahren, bis zu der Zeit, da sich das Schicksal der Statue entschied und sie aus den Annalen verschwindet. Finian.
Das 15. Jahrhundert erbrachte so gut wie nichts. Es begann vielversprechend, mit einer Meldung im Jahr 1402, wonach König Heinrich IV. »auf Bitten des Abts von Unserer Lieben Frau zu Castleboyne alle Pilger unter seinen Schutz nahm, seien es Lehensmänner oder irische Rebellen, die gemäß einem uralten Privileg zu besagter Abtei auf Pilgerfahrt gingen«. Das bewies, dass der Schrein sowohl von den eingeborenen Iren wie auch von den Siedlern verehrt wurde, deren Loyalität der englischen Krone gehörte. Aber danach hatte Finian nur noch wiederholte Hinweise auf die wundersamen Heilkräfte des Schreins zutage gefördert – gipfelnd in einem bizarren Fall aus dem Jahr 1444, bei dem durch sein Eingreifen »Katzen von einer Frau mit großer Leibesfülle hervorgebracht wurden, die man schwanger wähnte«!
Der Versuch, durch Sensationsgeschichten Interesse an dem Schrein zu wecken, zeugte von religiösem Niedergang, von einer klösterlichen Kultur, die ins Kraut geschossen war. In gewisser Weise wurde der Boden für die Tudor-Reformation im 16. Jahrhundert bereitet. Ich überflog weitere Einträge über die Kräfte des Schreins, bis ich ins Jahr 1538 kam. Im Juni schrieb Erzbischof Brown von Dublin an Thomas Cromwell, den Kammerherrn Heinrichs VIII.: »Das Bildnis der Jungfrau von Castleboyne ist so falsch wie es das Boxley-Kreuz war. Es verdient, entfernt zu werden und das Schicksal jenes Götzen zu teilen.«
Die Beschreibung einer Statue als »Götzenbild« und ihre Verleumdung als »falsch« waren die Standardbegriffe, mit denen man die Zerstörung Tausender religiöser Kunstwerke bei einem staatlich geförderten Bildersturm rechtfertigte, der in den Jahren vor 1540 einsetzte. Mit talibangleicher Wut zertrümmerten, verbrannten und verunstalteten die Truppen Heinrichs VIII. Statuen, Kruzifixe, Reliquien, Kircheneinrichtungen, Buntglasfenster, Gemälde, Fresken und Inschriften.
Indem er die Muttergottes von Castleboyne mit dem Boxley-Kreuz verglich, benutzte Brown jedoch eine Art von falschen Bildnissen, um ein anderes in den Schmutz zu ziehen, wobei er absichtlich theologische Themen mit Taschenspielertricks durcheinanderwarf. Das Boxley-Kreuz aus Kent war ein Apparat, der des Zauberers von Oz würdig gewesen wäre – ein Kruzifix, an dem der dargestellte Christus mithilfe von Drähten und Federn den Kopf und die Gliedmaßen bewegen, die Augen verdrehen, lächeln, die Stirn runzeln und sogar Tränen vergießen konnte. Schwer vorstellbar, dass sich Menschen durch diese Jahrmarktsattraktion täuschen ließen; sie mochten gestaunt haben, aber schwerlich geglaubt. Und abgesehen von Bischof Browns Verleumdung legte keiner der Hinweise auf das Bildnis von Castleboyne den Verdacht irgendwelcher Tricksereien nahe.
Der nächste Eintrag stammte vom Herbst desselben Jahres und zeigte, dass Bischof Brown von höherer Stelle die Erlaubnis erhalten hatte, die er brauchte, um seine Gewissenspflicht auszuüben. »Oktober. Das höchst wundersame Bildnis der Muttergottes, das Pilger aus dem ganzen Land und darüber hinaus mit ihren Opfergaben ausgeschmückt hatten, und das sich in der Abtei von
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