Die Pestglocke
Menschenmengen versammeln könnten – wie Konzerte oder Märkte -, und nur zur Arbeit zu gehen, wenn ihre Tätigkeit lebenswichtiger Natur ist. In anderen Worten, je weniger Leute untereinander verkehren, desto geringer das Risiko, dass sich die Infektion ausbreitet. Es gab im Zusammenhang mit der Maul- und Klauenseuche hier schon früher Restriktionen, die Leute verstehen also, dass ihre Freiheiten beschnitten werden.«
»Und wie lange soll das voraussichtlich dauern? Wie lange wird Castleboyne von der Außenwelt abgeschnitten sein?«
»Das wird davon abhängen, wann wir den Erreger identifiziert haben und wissen, wie er übertragen wird.«
»Verstehe. Vielen Dank, Oliver Patton.«
Ich schaltete das Radio aus. Im nächsten Moment geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Das Telefon begann erneut zu läuten, und Peggy traf ein.
Wenn ich in Kleiderfragen ein wenig von einem Chamäleon hatte, dann war Peggy wie eines dieser Säugetiere, die ihre Pelzfarbe nach der Jahreszeit wechseln, oder wie ein Vogel, der zur Paarungszeit ein anderes Gefieder zur Schau stellt. Mehr als einmal hatte ich bei meiner Ankunft im Büro eine vermeintlich wildfremde Person an Peggys Platz vorgefunden, bis ich erkannte, dass eine ihrer Verwandlungen stattgefunden hatte: neue Frisur und Haarfarbe, dazu ein kompletter Wechsel der Garderobe – meist irgendein Retro-Look, zu dem sie sich aus nie genannten Gründen entschieden hatte. Die einzige Konstante war ihre üppige – manche würden sagen stattliche – Figur. Keiner Ermahnung sogenannter Schönheitsexperten, keiner von Promis empfohlenen Diätmode war es je gestattet worden, etwas an ihrer Körperform zu ändern.
Ich hatte mich noch kaum an den neuen Fünfzigerjahre-Look gewöhnt, den sie seit ein paar Wochen pflegte, und zu dem blondiertes Haar in weichen Wellen gehörte, mit ein paar niedlichen Schmachtlocken, welche die Stirn umrahmten. Heute Morgen trug sie eine apfelgrüne Samtbluse mit einem großen, weichen Kragen und dreiviertellangen Ärmeln mit Umschlag, darunter einen eng anliegenden, schwarzen Rock. Um die erstaunlich schmale Taille verband ein breiter roter Plastikgürtel mit übergroßer Schnalle die beiden Kleidungsstücke. Hochhackige rote Sandalen vervollständigten ihre Aufmachung.
Ich kam mir äußerst unzulänglich gekleidet vor. In Erwartung eines weiteren heißen Tages hatte ich entschieden, dass Shorts, T-Shirt und Flip-Flops angesagt waren.
Peggy winkte hektisch und deutete auf den Hörer in ihrer Hand, dann schnitt sie eine Grimasse und legte die Hand auf die Muschel.
»Morning Ireland?«, flüsterte sie und schüttelte in Vorwegnahme meiner Antwort bereits den Kopf.
Ich schüttelte meinen noch heftiger.
»Nein, sie ist nicht hier«, sagte Peggy.
Ich malte eine senkrechte Linie und einen Kreis in die Luft.
Peggy verstand. »Sie wird gegen zehn Uhr kommen. Darf ich fragen, wer angerufen hat? ...
Aha ... Und Sie haben bereits mehrere Nachrichten hinterlassen. Tatsächlich? Auch auf ihrem Handy, verstehe. Nun, dann rufen Sie später wieder an, sie wird sicher gern mit Ihnen sprechen.«
Peggy legte auf. »Die Sendung endet um neun«, zitierte sie den Anrufer.
»Ich weiß. Ich bin einfach nur nicht in der Verfassung für ein Interview. Und ich habe das Gefühl, dass das Telefon den ganzen Vormittag läuten wird. Mein Handy auch.«
»Hat es mit dem Ausbruch zu tun?«
»Leider ja. Übrigens, danke, dass du gestern die Stellung gehalten hast.«
»Das ist mein Job. Aber ich würde schon gern wissen – sind wir denn nun verantwortlich für diese Seuche?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube es nicht, ehrlich. Aber ich halte es für wichtig, dass wir mit den Behörden kooperieren, die den Ausbruch untersuchen. Und ich stehe in engem Kontakt mit den Ärzten im St. Loman.«
»Wird es sich ausbreiten? Ich meine, sind wir alle in Gefahr, es zu bekommen?«
»Willst du eine ehrliche Antwort? Ich weiß es nicht, aber ich bezweifle es. Ich halte die Reaktion des Gesundheitsministeriums für leicht übertrieben, aber wahrscheinlich will keine Regierung der Welt den Eindruck vermitteln, als bliebe sie untätig, während sich eine möglicherweise tödliche Epidemie vor ihren Augen ausbreitet.«
»Die Leute stehen in den Straßen zusammen und reden darüber, wusstest du das? Sogar manche Geschäfte bleiben geschlossen. Und heute Nachmittag um fünf findet eigens ein Erlösungsgottesdienst statt.« Sie schnupperte in der Luft. »Hier riecht es stark nach Benzin,
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