Die Pestmagd
manchmal schwer zu schätzen.
» Seid ihr beide allein?«, fragte er.
» Ja, und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll.«
» Warte – ich bin gleich bei dir!«
Die Tür war nur angelehnt. Vincent stieß sie auf und rannte die Treppe hinauf. Er erschrak vor dem Gestank, der ihm entgegenschlug. Die Kranke lag auf einem Strohlager, offensichtlich bereits im Delirium.
» Sie ist glühend heiß«, murmelte das Mädchen. Wirre blonde Locken umrahmten ein schmales, wohlgeformtes Gesicht. Wäre sie gewaschen und frisiert gewesen und hätte sie statt ihrer Lumpen ein anständiges Kleid getragen, sie hätte ohne Weiteres als junge Schönheit durchgehen können. » Obwohl ich sie schon die ganze Zeit mit nassen Lappen gekühlt habe. Und seht doch nur – unter den Achseln ist sie ganz geschwollen!«
» Gib mir ein Tuch!«, befahl Vincent, obwohl er bereits ahnte, dass er zu spät gekommen war. » Wie heißt du?«
» Nele.« Sie reichte ihm ein Stück Leinen. » Und meine Mutter heißt Maria.« Er schob das Hemd der Kranken zur Seite, legte das Tuch auf die Schwellungen und betastete sie behutsam. Selbst in ihrer Agonie schien die Frau sich schmerzerfüllt zu verkrampfen.
» Wie lange hat sie schon diese Beulen?«, fragte er.
» Drei Tage, glaube ich. Vielleicht auch vier. Zuerst hatte sie nur Schüttelfrost. Dann hab ich die Schwellungen irgendwann beim Waschen entdeckt.«
Die Beulen waren klein und steinhart. Die Chancen, dass sie sich von selbst öffnen würden, damit verschwindend gering. Und er hatte nichts Geeignetes bei sich, um diesen Vorgang zu beschleunigen.
Die Mädchenaugen hingen an seinem Gesicht. » Muss sie sterben?«, fragte Nele angstvoll.
Die Wahrheit war furchtbar, doch er musste sich ihr stellen. Alle in der Stadt mussten das, sollte sich bewahrheiten, was er vermutete.
» Sie war bei der Tante in Andernach«, erzählte Nele. » Ein Fuhrwerk hat sie zurück mit nach Köln genommen. Schon am Morgen danach fühlte sie sich müde und schlapp. Dann kam das Fieber. Bisher hat die Nachbarin nach uns gesehen und Essen gebracht …«
» Eure Nachbarin war auch bei Maria?«, unterbrach sie Vincent.
» Jeden Tag. Bis heute. Als Lisi aber sah, wie schlecht es Mama geht, hat sie an der Tür kehrtgemacht und sich geweigert hereinzukommen.«
Kluge Nachbarin, dachte Vincent. Aber ob ihr das noch genützt hat?
Die Kranke stieß ein Stöhnen aus. Dann klaffte ihr Mund weit auf.
» So helft Ihr doch!«, schrie Nele. » Seht Ihr denn nicht, wie sie leidet?«
» Ich fürchte, das kann ich leider nicht.« Lange schon hatte Vincent sich nicht mehr so mutlos gefühlt: ein Medicus, der keinerlei Macht hatte, die Seuche zu bannen. Was der Erzbischof und Longolius ihm bei seinem Besuch enthüllt hatten, waren Ängste und Vermutungen gewesen, die er mit klugen Argumenten beiseitezuschieben gewusst hatte. Doch was er hier direkt vor sich sah, überstieg selbst die schrecklichsten Befürchtungen.
» Und warum nicht?« Das Mädchen schien wie von Sinnen.
» Es ist die Pest, Nele«, sagte er langsam. » Diese schwarzen Beulen sprechen eine eindeutige Sprache.«
x
ANDERNACH, 1540
Er kannte die Stimmen der Nacht. Jahrelanges Umherziehen hatten sie ihn gelehrt. Doch während er sie als Kleiner verängstigt wahrgenommen hatte, stets voller Furcht vor der nächsten Ohrfeige oder einem Schlag in den Bauch, der ihm die Luft nahm, konnte er ihnen nun in Ruhe lauschen.
Es hatte Tage gegeben, an denen der Alte ihm das Kunststück wieder und wieder vormachen musste, und er hatte schon geglaubt, es niemals zu lernen. Doch immer wenn er dachte, an seine Grenzen gelangt zu sein und nicht mehr weiterzukönnen, stellte er fest, dass er stärker, schneller und geschickter geworden war.
Der Zorn spornte ihn an. Nach und nach wurde er sein bester Freund.
Seit er das verstanden hatte, machten ihm Niederlagen nicht mehr so viel aus, und auch die unweigerlichen Schläge und Bestrafungen nahm er in Kauf.
Sie alle waren nichts als Etappen zu seinem nächsten Sieg. Sie gaben ihm die Kraft, zu töten und aus seinem Gefängnis auszubrechen.
Dass der Alte als Erster daran glauben musste, lag auf der Hand. Noch heute hatte er dessen Gesicht mit den aufgerissenen Augen vor sich, in denen ein Erstaunen lag, das ihn nach wie vor belustigte.
Wie grob und direkt er damals noch vorgegangen war!
Inzwischen hatte seine Kunst sich verfeinert. Wenn er es darauf anlegte, blieben keinerlei Spuren zurück, es sei denn, er wollte sie
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