Die Pestspur
verschwunden war – unter die Erde bringen sollte. Da Ruland Berging immer noch nicht aufgetaucht war und die Toten dringend beerdigt werden mussten, um den Anschein zu erwecken, dass alles dafür getan würde, die Lebenden vor Ansteckung zu schützen, musste er sich schnellstens etwas einfallen lassen. So organisierte er es mit Hilfe des betagten Mesners, der gesundheitsbedingt eigentlich nicht mehr arbeiten wollte, dass die Angehörigen ihre Verstorbenen zur südseitig gelegenen St. Martins-Kapelle in den Kirchhof brachten, damit sie dort so lange aufgebahrt werden konnten, bis er einen Ersatz für diesen Arsch von Totengräber gefunden hatte. Da der Mesner selbst knochenalt und zudem gichtig war, konnte ihm diese Arbeit nicht mehr zugemutet werden. Man musste froh sein, dass er es überhaupt noch schaffte, das Seil, an dem die Sterbeglocke hing, zu ziehen, um der gegossenen Bronze die traurigen Töne zu entlocken.
Nachdem die kleine Seelenkapelle die leblosen Körper längst nicht mehr aufnehmen konnte, mussten sie vorübergehend im Freien unter Schatten spendenden Bäumen abgelegt werden, was bewirkte, dass sich zunehmend süßlicher Geruch verbreitete, der – je nach Windrichtung – im ganzen Ort zu spüren war.
*
Da dem gräflichen Schlossverwalter in seiner Eigenschaft als interimistischem Ortsvorsteher umgehend berichtet worden war, was in Staufen vor sich ging, hatte er sich sofort darum gekümmert und den Medicus gebeten, Propst Glatt wenigstens so lange bei der Leichenentsorgung zu unterstützen, bis ein neuer Totengräber gefunden sein würde. Dass Heinrich Schwartz nur darauf eingegangen war, um bei seiner eigentlichen Arbeit ungestört zu sein, konnte der Kastellan nicht im Entferntesten ahnen. Dadurch, dass er sich bei der Bestattung der ›Pesttoten‹ behilflich zeigte, stieg er weiter im Ansehen der Ortsbewohner und dies, obwohl er anstatt echter Hilfe nur Scheinarzneien und tröstende Worte für sie übrig hatte … und kassierte. Dennoch würde jetzt sofort etwas geschehen und für den Totengräber ein Ersatz aufgetrieben werden müssen. Da er keine Schnüffler gebrauchen konnte, musste er verhindern, dass sich die Obrigkeit einmischen und von Amts wegen einen ordentlich bestallten Leichenbestatter aus der Residenzstadt nach Staufen entsenden würde. Da kümmerte er sich schon lieber selbst darum. Dabei kam ihm der Zufall zu Hilfe: Als er seinen Behandlungsraum verließ, um an der äußersten Ecke des Propsteigebäudes im übel riechenden Abtritt seiner Schlafkammer etwas zu verstecken, zuvor aber die Sache von außen inspizieren wollte, hörte er, wie der Propst im Raum gegenüber des Flures auf jemanden einredete. Durch einen Schlitz im alten Türholz sah der Medicus einen zerlumpten Jüngling und erkannte in ihm Fabio, den Dieb. Der Kirchenmann hatte den Obdachlosen von der Straße aufgelesen und ihm im Namen Christi eine Suppe mit einem Ranken Brot spendiert. Während der total verwahrloste junge Mann gierig die geschmacksarme Flüssigkeit schlürfte, nutzte Johannes Glatt die Gelegenheit, ihm das Wort Gottes näherzubringen und ihn zu überreden, sich eine ehrliche Arbeit zu suchen.
»Geh nach Kempten oder nach Landsberg, besser noch in eine größere Stadt! Vielleicht nach München oder nach Augsburg? … Stuttgart soll auch sehr schön sein. Dort gibt es sicherlich Arbeit für dich, und du kannst dich als Tagelöhner verdingen … und ein gottesfürchtiges Leben führen. Hörst du, Fabio?«, bedrängte der Propst den Burschen, der mehr mit seiner Suppe beschäftigt war, als ihm zuzuhören. »Hier in Staufen gibt es keine Arbeit für dich«, hörte der Medicus, als er gerade an dessen Tür lauschte.
Auf Zehenspitzen schlich der Arzt zurück in seinen Behandlungsraum. Dort ließ er die Tür einen Spaltbreit offen, um nicht zu verpassen, wenn der Propst Fabio zur Tür brachte, um ihn zu verabschieden. Als es Minuten später so weit war, trat der Medicus wie zufällig in den Flur.
»Gott befohlen, Medicus«, grüßte der überraschte Hausherr.
Ohne den Gruß des Propstes zu beantworten, rieb sich der scheinheilige Arzt die Hände und legte mit pathetisch weinerlicher Stimme los: »Euer Hochwürden, Ihr habt ja daselbst schon von der grässlichen Epidemie gehört und wurdet auch schon zu den nicht nur in den Augen Gottes bedauernswerten Sterbenden und zu den bereits zu Gott Entsandten gerufen, um ihnen die letzten Sakramente zu geben. Arg schlimme Dinge tun sich. Die gedanklich
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