Die Pestspur
kann!«
»Ein guter Vorschlag!«, lobte ein anderer.
So ging die Auswahl rasch und ruhig vonstatten, und Eginhard schritt jetzt mit siebenundzwanzig zufriedenen Erwachsenen, drei Halbwüchsigen und zwölf Kindern in Richtung Altar an den Gläubigen vorbei, wobei er zu beiden Seiten zwei gebrechliche Alte stützte.
Das Raunen, das jetzt durch die Kirche ging, ließ sogar den Propst, den Aushilfsmesner und die Messdiener neugierig aus der Sakristeitür herauslugen. Eginhard setzte sich mit den beiden Alten neben seinen Vater und seine Brüder. Schnell waren die Bänke gefüllt; die Frauen links, die Männer rechts und die Kinder auf den Schößen ihrer Eltern oder Großeltern. Bis auf ein ständiges Husten, das aus der ersten Reihe der Frauen kam, war es mucksmäuschenstill. Jetzt warteten alle nur noch auf den Beginn der Christvesper.
Als die kleine Sakristeiglocke die Messliturgie einläutete, begannen die Gläubigen spontan, sich gegenseitig an den Händen zu halten. Dieser ungeplante Akt des gemeinsamen Gedenkens an ihre Verstorbenen ging allen durch Mark und Bein. Selbst die Kinder spürten, dass dies etwas ganz Besonderes war und reichten ihren Sitznachbarn ihre kalten Händchen. So zog sich eine Kette der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung und des Mutes von der ersten bis zur letzten Kirchenbank. Die hintersten reichten ihre Hände sogar noch den Stehenden, die wiederum ihre Hände zu den draußen verbliebenen Gläubigen ausstreckten.
Der Propst, der eigentlich mit der Liturgie beginnen wollte, war tief ergriffen von diesem einzigartigen Zeichen der Solidarität. Er nahm spontan seine Messdiener an die Hand und trat die drei Stufen herunter, damit einer von ihnen die symbolische Verbindung von den Gläubigen zum Diener Gottes und über ihn zu Gott selbst herstellen konnte.
Der Messdiener Karl Borromäus – ein richtiger Lausbub, wenn er nicht gerade den Kirchendienst verrichtete – griff sanft die Hand der Person, die links außen in der ersten Reihe stand. Es war die alte Weidenflechterin. Bevor sie die Hand des Messdieners entgegennahm, zeichnete sie dem Burschen zittrig ein Kreuz auf die Stirn.
»Der Segen betagter Menschen soll besonders hilfreich sein, heißt es«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln und zwinkerte Karl Borromäus zu. Dass ihr ausgerechnet dieser Messdiener schon einige Streiche gespielt hatte, wusste sie nicht.
So verharrten die Gläubigen lange schweigsam, bis die Vorsängerin zu einem Lied ansetzte, das eigentlich nicht in eine Christvesper gehörte. »Großer Gott, wir loben dich. Herr, wir preisen deine Stärke …«
Erst als der Pfarrer den Messdienern deutete, wie alle Jahre zu Beginn des Weihnachtsgottesdienstes das weiße Tuch von der Heiligen Familie zu nehmen, löste sich die Solidaritätskette langsam auf, und die Menschen betrachteten andächtig die fast sechs Fuß hohen Holzfiguren. Nicht wenige wischten sich verstohlen ein paar Tränen von den Wangen. Das auf Stroh des Huberbauern gebettete Jesuskind lächelte ihnen dabei verständnisvoll entgegen.
›Fröhliche Weihnachten‹ wünschten sich die Gläubigen in diesem Jahr nicht. ›Eine gesegnete Weihnacht‹ war angemessener. Und dies hörte man nach der feierlichen Christvesper von allen Seiten. Als auch die Dreylings von Wagrain auf dem Portalplatz etliche Hände schüttelten und alte Bekannte umarmten, erblickten sie die Bombergs, die respektvoll das Ende der Messe in einigem Abstand vor der Kirche abgewartet hatten und nur deswegen gekommen waren, um mit den Dreylings von Wagrain ein Schwätzchen zu halten.
Die beiden Frauen winkten einander und gingen sofort aufeinander zu. Sie umarmten sich herzlich, was den Propst, der dies zufällig sah, stutzig machte. Auch ihre Männer und Kinder schüttelten sich die Hände, wobei Jakob Bomberg bemerkte, dass nicht nur aus Eginhard, sondern auch aus Lodewig aufrechte junge Männer geworden waren. Dabei sahen die Mütter, wie Lodewig seine geliebte Sarah sanft zur Seite nahm und sich ängstlich nach allen Seiten umblickte, bevor er sie verstohlen auf die Wange küsste.
Da Konstanze bei diesem Anblick lächelte, wurde sie von Judith fassungslos angeschaut.
»Hast du etwa davon gewusst?«
»Nein!«, gab sie zur Antwort, ergänzte aber ehrlich: »Nicht richtig.«
»Oh je, wenn das die Männer wüssten«, gab Judith zu bedenken und hielt sich intuitiv den Mund zu.
»Warum? Hätte Jakob etwas gegen diese Verbindung? Er hat doch gerade selbst gesagt, dass
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